Untersuchung: Schikanen und Drangsal in Verschickungsheimen

Verschickungskinder sollten sich bei Heimaufenthalten erholen und gesünder werden. Doch in manchen Fällen gab es stattdessen Bloßstellungen und Gewalt. Eine Klinik ist um Aufarbeitung bemüht.

Sie sollten zur Kur ins Heim gehen und gesünder zurückkommen. Doch manche dieser sogenannten Verschickungskinder brachten stattdessen ein Trauma mit nach Hause. Auch in Rheinland-Pfalz gab es solche Heime. Für eines davon, die Klinik Viktoriastift in Bad Kreuznach, haben sich Forscherinnen der Universität Koblenz genauer mit der Geschichte und den Erlebnissen befasst. 

Was genau waren Verschickungen?

In den 50er bis 80er Jahren wurden in Deutschland Kinder für mehrere Wochen in Heime geschickt, um sich zu erholen und die Gesundheit zu fördern. Der Verein „Initiative Verschickungskinder“ spricht vom „systematischen Verbringen von Kindern in weit abgelegene Kindererholungsheime und Kinderheilstätten“. In der Regel seien die Kinder für sechs Wochen in solche Heime geschickt worden. 

„Der Grundgedanke war nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt ein Guter. Kinder in Einrichtungen zu schicken, um ihre körperliche Entwicklung zu fördern“, sagt Frank Müller, Kaufmännischer Direktor der Klinik Viktoriastift. „Durch die Ideologie vorher haben aber Menschen dort Aufgaben übernommen und Methoden angewandt, die aus heutiger Sicht sicher der schwarzen Pädagogik zuzuordnen sind.“

Es habe schon damit angefangen, dass etwa kleine Kinder einfach aus der Familie herausgenommen worden und ohne Kontakt zu Bezugspersonen gewesen seien, sagt Nicole Hoffmann, Professorin für Pädagogik an der Uni Koblenz. „Allein schon diese Tatsache kann zu schwierigen Erinnerungen führen.“

Google-Rezensionen mit schlimmen Erinnerungen

Laut Müller gab es nach heutigem Wissensstand in ganz Deutschland etwa 1.100 solcher Heime und Kliniken. In Rheinland-Pfalz seien es etwa 80 gewesen. In Bad Kreuznach, wo das Viktoriastift ist, gab es demnach acht. 

Das Landeskrankenhaus hatte die Klinik Viktoriastift 2016 übernommen, sagt Müller. „Als wir mit dem Angebot gestartet sind, kamen erste Google-Rezensionen, Kommentare und Einträge, die uns haben aufhorchen lassen“, erinnert er sich. „Da haben sich Menschen gemeldet, die geschrieben haben, sie seien in den 60er oder 70er Jahren hier gewesen und verbinden ganz schlimme Erinnerungen mit dem Aufenthalt.“ Hinzu kommen Medienberichte – die Klinik entscheidet sich, die Uni Koblenz mit einer Untersuchung zu beauftragen. 

Hoffmann und ihre Kolleginnen erhalten „völlig freien Zugang“ zum Archiv des Hauses, wie sie sagt. Sie durchsuchen zahlreiche Dokumente: Vorstandsprotokolle, Abrechnungen, Architekturpläne. „Die Dokumente geben einen Einblick, wie das Haus geführt wurde“, sagt Hoffmann. „Es gibt zum Beispiel Hinweise, dass es vonseiten der Eltern Nachfragen gab, weil das Kind verstört zurückgekommen sei.“ 

Erbrochenes essen und bloßgestellt werden

Neben der Dokumentenanalyse suchen die Wissenschaftlerinnen nach Betroffenen. Mit mehreren führen sie anonym Interviews. Sie berichten laut Hoffmann von überfordertem Personal in den Heimen, das medizinisch nicht qualifiziert war. „Etwa ein Schlafsaal mit 30 Jungs und zwei Pflegerinnen“, sagt Hoffmann. „Es war ein sehr, sehr strenges Regime.“ Es sei zu Schikanen und Drangsalierungen gekommen. „Wer nicht aufgegessen hat, musste zum Teil das Erbrochene aufessen. Wer bettnässte, wurde bloßgestellt.“

Außerdem habe man etwa Geschwisterkinder absichtlich getrennt – unter der falschen Annahme, das wirke Heimweh entgegen, sagt Müller. Die heutige Kinder- und Jugendrehabilitation ermögliche hingegen die Aufnahme ganzer Familien. „Die Menschen schildern uns Eingriffe in ihre Autonomie, in ihre Persönlichkeitsrechte, die schwerwiegend sind und aus heutiger Sicht absolut undenkbar“, sagt er. „Auch schwere Eingriffe in Kinderrechte. Würde ein Mitarbeiter heute beispielsweise ein Kind schlagen, würde das zur sofortigen Kündigung führen und wäre ein Straftatbestand.“

Das Viktoriastift habe laut Untersuchung zu Hochzeiten etwa Platz für 350 bis 360 Kinder gehabt. „Wir haben jetzt erfahren: Das damalige Viktoriastift hatte in Bad Kreuznach, wahrscheinlich sogar in der Bundesrepublik, durchaus eine Flaggschiff-Größenordnung“, sagt Müller. Geschätzt seien insgesamt mehrere Zehntausend Kinder im Viktoriastift gewesen.

Unterlagen dürfen nicht dem Archiv gegeben werden

An diesem Wochenende war der Bundeskongress „Aufarbeitung Kinderverschickungen 2024“ des Vereins „Initiative Verschickungskinder“ in Bad Kreuznach geplant. „Der Bundeskongress in Bad Kreuznach schafft einen wichtigen Raum für Aufklärung und Aufarbeitung“, hieß es von Staatssekretär Denis Alt vorher. „Damit leistet er einen wertvollen Beitrag zur Erinnerungsarbeit, um das Geschehene besser zu verstehen und Wege für eine nachhaltige Aufarbeitung der Erlebnisse zu finden.“

An dieser Erinnerungsarbeit will auch die Klinik Viktoriastift mitwirken. So sei etwa geplant gewesen, die Unterlagen dem Landesarchiv zu überlassen und so zugänglich zu machen. Aber: „Das Landesarchiv darf diese Unterlagen nicht nehmen und wir dürfen sie nicht übermitteln, weil der Datenschutz drübersteht und das patientenbezogene Daten sind“, sagt Müller. „Das ist sehr bedauerlich und wir haben die Hoffnung, dass sich da der Gesetzgeber durchringt, etwas zu ändern.“ 

Er hofft, die Untersuchung der Uni sei eine Initialzündung, die das Thema auch beim Bund stärker in den Fokus rücke. „Die Kinderverschickungen waren in der ganzen Bundesrepublik Teil des Gesundheitswesens.“ Um Betroffenen den Umgang mit der Vergangenheit zu erleichtern, bietet die Klinik auf Anfrage Erinnerungsbesuche an. „Wir wollen Menschen die Möglichkeit geben, vorbeizukommen und sie dabei zu begleiten.“