Die Geschichte lässt einen realen Fall aus den 90er-Jahren anklingen: Eine verheiratete Mutter hat eine Affäre mit einem 13-Jährigen. Die beiden Hauptdarstellerinnen von „May December“ spielen mit allen Tricks ihrer Kunst.
Es scheint, als habe im Weltkino das goldenen Zeitalter für Frauen begonnen. Das zeigt sich auch daran, dass bei den Filmfestspielen von Cannes gerade Regisseurinnen und Darstellerinnen einen Großteil der Preise abgeräumt haben.
Cannes ist ein guter Ort für Heldinnen: Bereits im vergangenen Jahr feierte dort „May December“ seine Uraufführung, das neue Werk von US-Regisseur Todd Haynes („Dem Himmel so fern“), in dem es zwei komplexe weibliche Figuren gibt. Vielschichtig und hingebungsvoll gespielt von zwei Stars, die sich wechselseitig zu Höchstleistungen antreiben: Natalie Portman und Julianne Moore.
Sie musste ins Gefängnis
Der Titel des Dramas bezieht sich auf die Alterslücke bei manchen Liebespaaren. Der Wonnemonat symbolisiert die Jugend, der Wintermonat die Reifezeit. Moore spielt Gracie, die vor 20 Jahren im Zentrum eines juristischen und medialen Skandals stand.
Die verheiratete Mutter hatte bei der Arbeit in einer Zoohandlung einen 13-jährigen Mitarbeiter kennengelernt und verführt (oder sich von ihm verführen lassen?). Als die Affäre aufflog, musste sie wegen Vergewaltigung eines Minderjährigen ins Gefängnis. Doch der Beziehung tat das keinen Abbruch. Nach ihrer Entlassung heiratete sie ihren inzwischen volljährigen Liebhaber, setzte mit ihm drei Kinder in die Welt.
Die Geschichte lässt einen realen Fall aus den 90er-Jahren anklingen, bei dem die US-Lehrerin Mary Kay LeTourneau im Mittelpunkt stand.
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„May December“ erzählt davon, dass die unerhörte Romanze nun verfilmt werden soll, mit Elizabeth (gespielt von Natalie Portman) in der Hauptrolle. Ein Film im Film also. Zur Vorbereitung will Elizabeth den Alltag von Gracie erleben, mit ihren Freunden und Bekannten über damals sprechen. Bald wird sie zu einer Art Familienmitglied und sieht sich selbst konfrontiert mit alten Wunden und neuen Animositäten. Jedes Detail scheint wichtig zu sein: Wie Gracie spricht, wie sie sich schminkt, wie herablassend sie manchmal mit ihrer Tochter umgeht. „Mir liegt viel daran, dass Sie meine Geschichte richtig erzählen“, sagt Gracie einmal. „Es sind die moralischen Grauzonen, die interessant sind“, kontert Elizabeth und überschreitet dafür zunehmend Grenzen des Anstands. Die anfangs freundschaftliche Bindung beginnt zu bröckeln.
Die beiden Schauspielerinnen lernten sich schätzen
Für Portman und Moore ist der verschlungene Stoff die ideale Gelegenheit, sich in ihren Rollen gegenseitig abzutasten und zu belauern, sich zu imitieren und ineinander kreativ zu verbeißen. Sie spielen sich mit allen Tricks ihrer Kunst in einen Rausch zwischen Wahrhaftigkeit und Simulation, bis nicht mehr klar ist, wer hier gerade wen ausnutzt. Schließlich steht die große Frage im Raum: Kann man einen anderen Menschen jemals ganz verstehen, geschweige denn durchdringen? Bei Schauspielern gehört das eigentlich zum Berufsbild. Doch auch sie können an ihrer Aufgabe scheitern.
Portman und Moore selbst kannten sich vor den Dreharbeiten nur von gelegentlichen Treffen bei Preisverleihungen. Portman war drei Mal für den Oscar nominiert und gewann ihn 2011 für „Black Swan“. Moore war fünf Mal nominiert und wurde 2015 für „Still Alice“ als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet.
Durch die gemeinsame Arbeit an „May December“ haben sie sich schätzen gelernt. Als Moore sich an einem Drehtag überfordert fühlte von sechs Seiten Text am Stück, habe Portman sie mit den Worten „Du schaffst das“ aufgebaut. „Ich war ihr dafür so dankbar“, sagt Moore bei einer Pressekonferenz. Bis heute sei dieser Satz ihr Mantra für Krisenmomente.
Ein Kinostart war lange fraglich
Schauspieler, die einen Schauspieler verkörpern – das hat in Hollywood eine lange Tradition. Man muss nicht unbedingt so weit gehen wie Dustin Hoffman, der sich in „Tootsie“ als Frau verkleidete, um bessere Rollen zu bekommen. Schon in den 1950er-Jahren mimten Gloria Swanson in „Sunset Boulevard“ und Bette Davis in „Alles über Eva“ jeweils eine Schauspielerin. In letzter Zeit spielten Brad Pitt einen Stummfilmstar („Babylon“) und Leonardo DiCaprio einen Westernhelden („Once Upon a Time in Hollywood”).
Obwohl „May December“ allerfeinstes Schauspielerkino über die Grenzen der Schauspielkunst ist und inszeniert von einem renommierten Regisseur, war ein Kinostart lange fraglich. Im Rest der Welt läuft das Drama längst auf Netflix.
Dem rührigen Berliner Verleih Wild Bunch ist es zu verdanken, dass der Film ins Kino kommt. Das goldene Zeitalter der Frauen – nun glänzt es auch auf unseren Leinwänden.