Verborgene Kunst: Zu diesem Wirt kommen manche für die Pasta. Und andere für den Picasso

Giovanni De Paolo hat in Lübeck schon für Günter Grass und Gerhard Schröder gekocht. Aber eigentlich lernt man bei ihm, wie man an große Kunst kommt.

Eine Hauptverkehrsstraße in Lübeck-Marli, einem eher bodenständigen Viertel der Hansestadt. Autos rauschen vorbei, zwei italienische Flaggen wehen im Wind. Darunter weisen rote Buchstaben auf weißem Grund den Weg ins „Restaurante Da Angelo“. Wenn man reinkommt, begrüßt einen Pablo Picassos „Flutiste et Chèvre savante“. Der Linolschnitt hängt an der Wand neben dem Tresen, „handsigniert“, Edition 49 von 50. Der vorletzte Linolschnitt, dessen Negativmuster Picasso geschnitten und geritzt hat, er hängt jetzt hier in Lübeck. 

Es ist nicht das einzige Werk des „Jahrhundertgenies“, das dieses kleine Restaurant schmückt. „Der andere Picasso hängt hier“, sagt Giovanni De Paola, 70, Inhaber des Restaurants, und zeigt auf den schmalen Wandvorsprung, rechts neben der gläsernen Eingangstür. „Suite 347“ verrät das Schild links unten neben dem Rahmen. Die Radierung gehört zur größten Druckserie Picassos. 347 – so viele Radierungen und Aquatinta-Drucke schuf Picasso im Jahr 1968. Der Maler war schon 86 und brauchte trotzdem nur sieben Monate, von März bis Oktober. Eine der Radierungen, das erste von 17 Exemplaren, wieder handsigniert, hat es nach Lübeck geschafft. Sie zeigt eine nackte Frau mit doppeltem Gesicht, die vor einem Mann steht. Dass Picasso nackte Frauen zeigte, sorgte zu seiner Zeit noch für Wirbel. Die erste Ausstellung in der Galerie Louise in Paris war nur einem ausgesuchten Publikum zugänglich. 

Trödelhändler findet Picasso-Gemälde 11.22

Rembrandt und Oskar Kokoschka als „Nachbarn“ in Lübeck

Giovanni De Paola, von allen nur Gianni genannt, hat noch mehr Schätze in seinem Restaurant: Zwischen zwei Fenstern zur Straße, wo die Autos vorbeischnellen, gibt sich Marc Chagall in einem goldenen Rahmen die Ehre. Eine Lithografie, Exemplar Nummer 16 von 35,  handsigniert. Zu sehen ist eine Szene aus dem Zirkus. Schräg gegenüber grüßt Rembrandt, ebenfalls eine Radierung, die den heiligen Hieronymus betend zeigt. Er hat nur noch einen „Rest von einer Signatur“, dürfte aber auch schon ein paar hundert Jahre alt sein. 

Hinten links drückt sich Oskar Kokoschka in die Ecke. Die Lithografie im Silberrahmen zeigt einen Reiter, der vom Pferd zu stürzen scheint. Exemplar 4 von 20, handsigniert. Auf der anderen Seite buhlt der spanische Maler Joan Miró mit einem bunten Traumbild um Aufmerksamkeit. Es stammt offenbar aus seiner surrealistischen Phase ab den 1920er Jahren. Auch diese Lithografie „handsigniert“, Exemplar 21 von 50. 

Wie kommen die Werke solcher Meister an die Wände eines kleinen, italienischen Restaurants in Lübeck? Ganz einfach: Gianni De Paola sammelt und stellt jetzt aus, um seinen Gästen „eine Freude zu machen“. 

Schon als Kind interessierte er sich für Kunst. Sein Großvater sei oft mit ihm ins Museum gegangen, erzählt De Paola. Er wuchs in der Region Basilikata auf, die an Apulien, Kalabrien und Kampanien grenzt. Dort siedelten ab dem 8. Jahrhundert vor Christus Griechen. Daher hat die Region ihren Namen „Magna Graecia“, frei übersetzt „großes Griechenland“. Noch heute sind dort Spuren aus dieser Zeit zu bewundern: Säulen, Tempel und Ruinen von Amphitheatern. An Kunst und Kultur kommt man in dieser Gegend im wahrsten Sinne des Wortes nicht vorbei. Sie steht am Wegesrand.
 
„Meine Familie war sehr kunstinteressiert. Obwohl wir nie Kunst hatten, haben wir eine große Bewunderung für die großen Namen. Diese ausgeprägte Bewunderung ist mir geblieben.“ Der Großvater erklärte dem kleinen Gianni, wer Leonardo Da Vinci war und dass er die berühmte Mona Lisa gemalt hatte. Er brachte ihm auch das Werk von Michelangelo näher.  

Bares für Rares26.2.

Kochen für Grass und Schröder

Nach der Schule, Gianni De Paola war 19, reiste er mit einem Kumpel in die Schweiz. Sie fanden einen Job in der Gastronomie. „Seitdem verdiene ich meinen Lebensunterhalt mit Kochen und Pizzaverkaufen.“ Er arbeitete ein paar Jahre in der Schweiz, ging zurück nach Italien, um seinen Militärdienst in Rom abzuleisten. Dann zog es ihn an die Ostsee, nach Heiligenhafen. Er arbeitete sich hoch, wurde Geschäftsführer, dann Teilhaber. Lernte seine Frau Birgit kennen. Im Jahr 2000 eröffnete er ein Restaurant in Lübeck. 

Als Gastronom machte sich Gianni De Paola bald über die Grenzen der Hansestadt einen Namen. Der Regisseur Dietmar Loeffler engagierte ihn für seine Stücke, die unter anderem bei den Hamburger Kammerspielen aufgeführt wurden. In der Italo-Musikrevue „Pasta e Basta“ hatte er eine kleine Rolle, stand mit der Sängerin und Schauspielerin Carolin Fortenbacher (Abba-Musical „Mamma Mia!“) auf der Bühne und kochte Pasta. Live. „Es zischt und dampft. Der Duft von gebratenen Zucchini, Paprika und Aubergine zieht durch den Saal“, schrieb die Presse. Bei dem Kult-Stück „Männerbeschaffungsmaßnahmen“ gab er den Gigolo.  

„Kult-Italiener“ nennt ihn die Presse, die solche Label liebt, seither. Promis, die die Hansestadt besuchen, kehren bei ihm ein. Für Altkanzler-Schröder hat er gekocht, Ex-Finanzminister Hans Eichel und der inzwischen verstorbene Literaturnobelpreisträger Günter Grass saßen bei ihm am Tisch. Mit dem ehemaligen SPD-Spitzenpolitiker Björn Engholm ist De Paola befreundet. Engholm hat ihm auch geholfen, seine Schätze für die kleine Ausstellung aufzuhängen.

Das Picasso-Bild wollte niemand kaufen

Wie für einen Gastronomen typisch, hat er wenig Freizeit. Aber wenn er Zeit hat, zieht es De Paola zur Kunst. Er geht ins Museum oder in Galerien, stöbert in Katalogen von Auktionshäusern, liest Kunstbücher. „Für mich ist Kunst ein Weg, mit dem Künstler emotional zu kommunizieren. Es ist dieser Moment, in dem man das Bild anguckt und mitgenommen wird.“ Es sind die großen Meister, die ihn anziehen. „Irgendwann dachte ich: Was im Museum hängt, könnte auch bei mir im Wohnzimmer hängen.“ 

Den ersten Picasso kaufte er sich 2005 bei einem Auktionshaus – es war „Flutiste et chèvre savante“, der Linolschnitt, der jetzt die Gäste begrüßt. „Ich habe gar nicht so viel Geld dafür ausgegeben“, erzählt De Paola. „Insgesamt, also mit Gebühren, habe ich 2700 Euro bezahlt. Das Bild wollte keiner haben.“

Ein echter Picasso für 2700 Euro? Kann das sein? Tatsächlich hat Sotheby’s „Flutiste et chèvre savante“ (Exemplar 40 von 50) kürzlich zum Startpreis von umgerechnet 3602 Euro angeboten. 

Große Kunst für kleines Geld

Das zweite Werk, das er kaufte, war der Miró, der jetzt eine Ecke im Restaurant verschönert. Die Lithografie habe 800 Euro gekostet. Wie bitte? 800 Euro für einen Miró? Den Preis für den Kokoschka hat De Paola vergessen, sagt aber: „Ein paar hundert Euro, vielleicht.“ Und der Rembrandt? „2000 Euro.“ Und der Chagall? „Ich habe mitgeboten und den Zuschlag für 3000 Euro bekommen.“

Nicht alle Künstler und Künstlerinnen, die heute als Giganten gelten, sind auch teuer. Der Wert hängt von vielen Faktoren ab: Hat das Kunstwerk eine Stempelsignatur, das heißt, dass die Unterschrift  aufs Papier gedruckt worden ist? Ist das Bild wirklich handsigniert, also eigenhändig unterschrieben? Sind die Kunstwerke nummeriert? Wie hoch ist die Auflage? Ein Blick ins Werkverzeichnis ist unerlässlich. Das verrät, ob ein Werk mit diesem Titel tatsächlich je erschaffen worden ist. Dass große Namen für kleines Geld weggehen, ist nicht ungewöhnlich. Lithographien sind vervielfältigte Kunstwerke. Sotheby’s hat derzeit rund 500 signierte Lithographien von Miró im Angebot – zwischen 2000 und 75.000 US-Dollar.

Sechs Prozent Wertanstieg pro Jahr

Der größte Coup von De Paola ist vermutlich eine Zeichnung von Renée Sintenis. Sie gehört zu den bedeutendsten deutschen Bildhauerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Gastronom entdeckte das Bild auf einem Flohmarkt. „Ich wusste, dass es interessant sein könnte. Ich hatte ihren Namen schon gehört. 20 Euro – und das Bild war meines. Im Internet gab es später ein Angebot von 10.000 Euro.“ Tatsächlich eignen sich Kunstwerke durchaus als Geldanlage. Es gibt Schätzungen, die den jährlichen Wertanstieg von Kunst mit etwa sechs Prozent veranschlagen. Allerdings ist die Wertsteigerung kein Selbstgänger. Glück gehört dazu. 

Im Sommer 2021 wurde bei der Trödel-Show „Bares für Rares“ im ZDF eine handsignierte Lithografie von Käthe Kollwitz für 400 Euro verkauft. Die Lithografie war zwar echt und mit Bleistift signiert, hatte aber einen kleinen Riss. Auch der Zustand spielt also eine Rolle. Eine Lithografie des Expressionisten Otto Mueller (1874 bis 1939), die eine Frau auf dem Dachboden gefunden hatte, brachte dagegen 30.500 Euro ein. Es war das teuerste Bild, das jemals in der Fernsehshow verkauft wurde. Kürzlich wechselte bei „Bares für Rares“ ein Teller von Picasso für 2100 Euro den Eigentümer. Für die Verkäuferin dürfte es das Geschäft ihres Lebens gewesen sein – sie hatte den Picasso auf einem Flohmarkt für einen Euro gekauft. 

Bares für Rares IV Fabian Kahl 10.40

Fälschungen sind schwer zu erkennen

„Bares für Rares“ lässt die angebotenen Kunstwerke von Experten begutachten. Der Markt wird nämlich von Fälschungen überschwemmt. Gerade hat die Polizei in Italien 38 mutmaßliche Kunstfälscher festgenommen. Sie sollen Fälscherwerkstätten in ganz Europa betrieben und unter anderem Werke von Marc Chagall, Claude Monet, Paul Klee und Pablo Picasso gefaked haben. Der Marktwerk der beschlagnahmten Fälschungen wird auf 200 Millionen Euro geschätzt. 

Einmal auf den Markt gebracht, sind Fälschungen schwer zu erkennen. Selbst chemische und röntgenologische Untersuchungen bringen nicht immer Sicherheit. Ob Leonardo da Vinci das Gemälde „Salvator Mundi“ gemalt hat, ist bis heute unklar. Trotzdem wurde das Bild 2017 zu einem Rekordpreis von 450,3 Millionen Dollar verkauft und gilt seither als das teuerste Gemälde weltweit
 

Verkauft wird nicht. Ich liebe alle meine Bilder

Der „Jahrhundertfälscher“ Wolfgang Beltracchi fälschte Bilder großer Meister und verdiente damit Millionen. Das Landgericht Köln verurteilte ihn und seine Frau, die die Bilder erfolgreich vermarktet hatte, 2011 zu mehrjährigen Haftstrafen. Inzwischen ist Beltracchi wieder frei. Etwa 250 seiner gefakten Werke würden weltweit noch in Museen hängen, schätzte er 2019 in einem Gespräch mit dem stern

Gianni De Paola kauft fast nur bei renommierten Auktionshäusern oder Galerien. 25 Meister hat der Gastronom inzwischen um sich versammelt. Er schätzt, dass er „so 30.000 Euro“ ausgegeben habe. Keine Angst, dass manche Schätze unecht sein könnten? De Paola schüttelt den Kopf: „Ich bin kein misstrauischer Mensch.“ Ihm gehe es ohnehin nicht um Gewinn. Nachdem die Lokalpresse seiner Ausstellung einen Bericht gewidmet hat, will ihn nun ein renommierter Kunstexperte besuchen. De Paola freut sich, sagt aber gleich. „Verkauft wird nicht. Ich liebe alle meine Bilder.“