Egal, was Julian Nagelsmann sagt: Nach Manuel Neuers erneutem grobem Schnitzer am Freitagabend schliddert die Nationalmannschaft in eine Torwartdebatte. Für den Keeper dürfte die EM ungemütlich werden.
Es war eine Stunde vor Mitternacht, als Julian Nagelsmann ein unangenehmes Thema auf sich zufliegen sah. Was er denn zum Fehler seines Torwarts Manuel Neuer sage, wurde Nagelsmann gefragt. Ohne eine Sekunde zu zögern, antwortete er: „Ich lasse keine Diskussion aufkommen, auch wenn’s jeder versucht.“
Man könnte sagen: Zumindest beim Bundestrainer stimmen die Reflexe noch. Er versuchte, eine Debatte wegzufausten, die gerade an Schärfe gewinnt im deutschen Fußball.
Ist Neuer noch der Richtige? So lautet seit heute die Frage, und alles deutet darauf hin, dass sie die Nationalmannschaft noch länger beschäftigen wird, womöglich sogar während der gesamten Europameisterschaft, die am 14. Juni beginnt.
Manuel Neuers Pannenserie
Die Krise des Manuel Neuer hat nicht erst am Freitagabend, im Borussia-Park von Mönchengladbach, ihren Anfang genommen. Neuers Fehler in der 37. Minute des Testspiels gegen Griechenland bekommt dadurch Gewicht, dass er sich einreiht in eine Vielzahl von Fehlern in der jüngeren Vergangenheit. Da ist der Patzer gegen Real Madrid im Halbfinale der Champions League, da sind drei Tore beim 2:4 gegen Hoffenheim am letzten Bundesligaspieltag, bei denen Neuer eine sogenannte schlechte Figur machte, da ist ein kläglich missratener Chipball gegen die Ukraine, der nur deshalb nicht zu einem Gegentor führte, weil der Schiedsrichter eine Abseitsstellung erkannte. Und da ist jetzt auch der Fehlgriff gegen Griechenland, als Neuer einen leicht abgefälschten, aber harmlosen Ball von Christos Tzolis nicht zu fassen bekam und Giorgos Masouras zum 1:0 einschob.DEU GRE Zu viele Baustellen 0945
Neuers Glück war es, dass die Deutschen dennoch gewannen, 2:1 durch ein spätes Tor von Pascal Groß. Das erleichterte es Julian Nagelsmann ein wenig, Neuers Fehler als lässlichen Lapsus darzustellen. Neuer habe auch drei Weltklasse-Paraden gezeigt, rechnete er vor, in der Summe sei „alles in Ordnung“.
Nagelsmann hat sich offenbar dazu entschlossen, ein Problem dadurch lösen zu wollen, dass er die Existenz desselben bestreitet. Diese Strategie wirft Fragen auf, die über das Sportfachliche, nämlich ob Neuer zu einem Sicherheitsrisiko geworden ist, hinausgehen: Was bedeutet Nagelsmanns Festhalten an seiner Nummer eins für das Binnenklima im Team? Wird es als Treueschwur verstanden, als große Geste? Oder ist die Lesart eine genau gegenteilige: Setzt Nagelsmann mit seinem stoischen Bekenntnis das Leistungsprinzip in der Nationalmannschaft außer Kraft? Zählen etwa nur die Verdienste der Vergangenheit?
Sendet auch Nagelsmann ein fatales Signal ins Team?
Nagelsmann wäre nicht der erste Bundestrainer, der Wucht einer Personalentscheidung unterschätzt. Im Sommer 2018, kurz vor Beginn der WM in Russland, gab es einen vergleichbaren Fall, und auch damals stand Manuel Neuer im Mittelpunkt. Neuer war nach einer langen Verletzungspause zum Nationalteam zurückgekehrt, was Joachim Löw nicht daran hinderte, ihn umgehend zum Stammtorwart für die Weltmeisterschaft auszurufen. Leidtragender war damals Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona, die deutsche Nummer zwei. Der Subtext von Löws Entscheidung lautete: Ein gerade vom Mittelfußbruch genesener Neuer ohne Wettkampfpraxis ist immer noch besser als ein gesunder ter Stegen mit jeder Menge Routine. Stadien EM 17.20
Es lag dann nicht an Neuers Torwartleistungen, dass die Deutschen schon in der Vorrunde scheiterten. Aber das Signal, das Löw gesendet hatte, war ein fatales. Im DFB-Team herrschte der Glaube, dass Löw vor allem nach Lebensleistung aufstelle und die Weltmeister-Spieler von 2014 bevorzuge. Das wirkte wie ein Sedativum aufs deutsche Spiel; selten zuvor hatte man solch maue und selbstgefällige Auftritte eines DFB-Teams gesehen wie 2018 in Russland.
Dieses Szenario muss sich nicht zwangsläufig wiederholen bei der EM (wobei der arme ter Stegen sich wie in einer Zeitschleife gefangen fühlen wird). Manuel Neuer, 38 Jahre alt, Nationalspieler seit 2009, wird jedoch von Zweifeln beschwert wie nie zuvor in ein Turnier gehen. Jede Aktion von ihm, jede Parade, jedes Fausten, jedes Rauslaufen und jeder Pass wird nun kritisch beäugt werden. Sein Kredit ist aufgebraucht, das wird er selbst wissen. Keine gute Voraussetzung für einen Torwart, dessen Spiel immer auch auf dem Selbstverständnis fußte, der Beste zu sein.