Politik ist manchmal sehr abstrakt und weit weg. Was schert mich, wenn die Parteien nicht miteinander können? Die Antwort ist: ziemlich viel.
Ausgerechnet jetzt, mitten in einer Wirtschaftskrise, mitten im Krieg in der Ukraine, mitten in großer Verunsicherung nach den Wahlen in den Vereinigten Staaten – ausgerechnet jetzt geht auch noch die Ampel-Koalition in Berlin kaputt. Zwar sprachen sich in einer Umfrage für den ARD-Deutschlandtrend am Donnerstag 65 Prozent für eine möglichst schnelle Neuwahl des Bundestags aus. Auch im ZDF-Politbarometer sind 54 Prozent für eine frühere Wahl als Kanzler Olaf Scholz (SPD) es plant. Trotzdem hat das politische Durcheinander einige Folgen, die für fast jeden im Land spürbar werden.
Der Bundeshaushalt: Wenn der Staat nur noch das Nötigste kann
Der Bruch der Ampel bedeutet, dass die Rest-Regierung von SPD und Grünen keine eigene Mehrheit mehr im Bundestag hat – auch nicht für die Verabschiedung des Bundeshaushalts. Was technisch klingt, betrifft Millionen Menschen. Schon in diesem Jahr könnte es Haushaltssperren geben, wenn der Bundestag der Regierung nicht erlaubt, zusätzliche Schulden aufzunehmen. Dann könnte es zum Beispiel dazu kommen, dass Zuschüsse für den Hausbau nicht mehr fließen.
Wenn die Regierung den Etat für 2025 nicht durchbringt, beginnt das Jahr mit vorläufiger Haushaltsführung. Dann werden zwar Pflichtleistungen wie das Bürgergeld weiter gezahlt. Was nicht verpflichtend, nicht gesetzlich verankert oder schon begonnen ist, wird hingegen womöglich auf Eis gelegt.
Unklar ist zum Beispiel, ob der Preis für das Deutschland-Ticket weiter steigen muss. Oder es platzen öffentliche Bauprojekte. Die Linken-Politikerin Gesine Lötzsch erwähnte im ZDF 5.000 Brücken, die saniert werden müssten: „Wir können die Dinge nicht auf die lange Bank schieben.“ Es geht aber auch wieder um Zuschüsse für altersgerechtes Wohnen, klimafreundliches Bauen und anderes.
Tausende Angestellte mit Projektverträgen müssen um eine Verlängerung zum Jahreswechsel bangen. Gemeint sind zum Beispiel soziale Projekte wie ein Lesben- und Schwulenverband oder der Friedensdienst Aktion Sühnezeichen, aber auch Vereine, die sich um die Stärkung der Demokratie kümmern. Sie stehen oft ganz vorne auf der Streichliste. Konkret heißt das: Jobs fallen weg.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, meint: „Die vordringlichste Aufgabe in den kommenden Monaten wird die Verabschiedung des Bundeshaushalts 2025 sein, sonst wird der Schaden für Wirtschaft und Gesellschaft noch größer.“
Kalte Progression und Kindergeld: Wenn Regierungshandeln im Geldbeutel spürbar wird
Der nun Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) hatte eigentlich eine milliardenschwere Entlastung geplant – nicht nur für Unternehmen, sondern vor allem auch für ganz normale Bürger. Jetzt ist völlig offen, ob das wirklich kommt, denn die Rest-Regierung bräuchte dafür die Hilfe der Union.
Ab Januar sollte das Kindergeld steigen und auch der Kindersofortzuschlag für Familien mit geringem Einkommen. Gut möglich, dass das nun erstmal nicht klappt.
Außerdem droht eine höhere Steuerbelastung. Denn die zerbrochene Ampel wollte eigentlich sicherstellen, dass Steuerzahler nicht noch mehr unter der hohen Inflation leiden. Jetzt könnte passieren, dass die sogenannte Kalte Progression nicht aufgefangen wird – dass Bürger also durch den ansteigenden Steuertarif auch dann mehr an den Fiskus zahlen müssen, wenn ihre Gehaltserhöhung nur die Inflation ausgleicht.
Fratzscher meint, darauf solle sich die Regierung jetzt erstmal nicht konzentrieren. „Es gibt dringendere Notwendigkeiten, die der deutschen Wirtschaft besser helfen würden“, sagte er. Für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet das aber: Weniger Netto vom Brutto.
Die Psychologie: Das große Unbehagen
Nicht sofort messbar, aber für fast alle spürbar: Die Menschen in Deutschland reagieren auf Unsicherheiten, ob nun politisch oder wirtschaftlich. „Die Wirtschaft und die Bürger wollen eine gewisse Stabilität, sie wollen wissen, was auf sie zukommt“, sagt der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer. „Wir haben große Ansprüche und Erwartungen an den Staat. Das spielt bei uns eine größere Rolle als in anderen Ländern wie den USA.“
Sein Fachkollege Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen meinte im ZDF sogar: „Wir sind ja Stabilitätsfanatiker.“ Er bezieht dies darauf, dass das Grundgesetz eigentlich darauf ausgelegt ist, politische Hängepartien zu vermeiden. Auch die deutschen Sozialsysteme sind ja so ausgefeilt, weil ein großes Bedürfnis nach Absicherung herrscht. Phasen der Unsicherheit können auch dazu führen, dass Menschen Anschaffungen hinauszögern und ihr Geld zusammenhalten.
Die Wirtschaft: Eine Hängepartie kann schaden
Was Privatleute umtreibt, trifft Unternehmen umso mehr. „Das Ende der Ampel-Regierung wird die Unsicherheit und die politische Lähmung in den kommenden Monaten erhöhen“, erwartet DIW-Chef Fratzscher. „Dies dürfte weiteren wirtschaftlichen Schaden anrichten und die deutsche Wirtschaft zu einem Zeitpunkt schwächen, an dem sie bereits sehr schwach und angeschlagen ist.“ Fratzscher ist Befürworter einer „expansiver Fiskalpolitik“ – der Staat soll in Phasen der Krise oder Rezession mit zusätzlichen Investitionen die Konjunktur beleben. Was schwer wird, wenn vorerst kein Haushalt zustande kommt.
Der Politologe Vorländer verweist zugleich auf das Bedürfnis nach Planbarkeit. Geht es weiter in Richtung Klimaschutz oder bleibt man länger bei Kohle? Setzt man weiter auf E-Autos oder fahren auf deutschen Straßen länger Diesel? „Die Ampel hatte eine große Transformation begonnen, nur passten die unterschiedlichen konzeptionellen Ansätze eben nicht zusammen“, sagt der Dresdner Wissenschaftler. „Aber die Politik hatte eine Richtung vorgegeben, und das ist es, was jetzt fehlt. Für Branchen wie die Automobilindustrie kann das existenziell sein.“
Die Politik: Wie geht das überhaupt weiter?
Die Regierungskrise hinterlässt bei vielen grundsätzliche Zweifel. Wird Politik nach einer Neuwahl wirklich wieder ruhiger und berechenbarer? „Wir haben viele Krisen, die gleichzeitig uns belasten und verunsichern“, sagt Vorländer. „Da brauchen wir eigentlich eine Richtungsanzeige. Andernfalls herrscht Angst, dass die Richtung bald wieder geändert wird.“ Der Politikwissenschaftler ist sich sicher: „Je kürzer die orientierungslose Zeit ist, desto besser.“