In der SPD-Fraktion wird Olaf Scholz wie ein Erlöser gefeiert. FDP-Chef Christian Lindner wird von seiner Fraktion beklatscht. Wer das Ampel-Aus verschuldet hat? Der Streit beginnt erst.
Zwei Gläschen Cognac hätte er schon gehabt an diesem Abend. So sagt es ein langgedienter sozialdemokratischer Abgeordneter vor Beginn der Sondersitzung der SPD-Fraktion. Es ist kurz nach 22 Uhr. „Der ein oder andere folgt sicher noch heute“, sagt er dann und lacht. Dann kommt auch schon der Bundeskanzler in den Fraktionssaal unter der Reichstagskuppel, umringt von seinen Personenschützern. Minutenlanger Applaus, vereinzelt Jubel.
Der Sozialdemokrat, der wenige Minuten zuvor seinen Finanzminister entlassen hatte, wird von den 207 sozialdemokratischen Abgeordneten gefeiert. Fast vier Minuten lang gibt es stehende Ovationen. Scholz, der in den vergangenen Monanten viele Sozialdemokraten enttäuscht hat, lächelt. In seiner Fraktion wird er an diesem dramatischen Abend gefeiert wie ein Erlöser.
Die Ampel-Koalition ist Geschichte, also fast. Ein bisschen weitermachen will der Kanzler noch, und dann im Januar die Vertrauensfrage stellen. Die FDP hat ihre Minister aus der Ampel abgezogen. Es ist eine historische Nacht, an einem ohnehin historischen Tag: In den USA wird Donald Trump wiedergewählt, Deutschland steht quasi ohne Regierung da. Ein Schreckensszenario? Man spürt noch ein anderes Gefühl: Erleichterung.
Aber Ampel wäre nicht Ampel, ginge es nicht, dann doch, weiter wie bisher: mit Streit. Wer ist Schuld am Koalitionsende?
Lindner liest vom Spickzettel ab
Um 21.38 Uhr strömen die Liberalen im Pulk aus dem FDP-Fraktionssaal, scharen sich schonmal um die aufgebauten Fernsehkameras. Lindner wirkt angefasst, hält kurz inne. Hinter ihm aufgereiht steht das FDP-Spitzenpersonal: der Fraktionschef, der Generalsekretär, auch der Justiz- und die Bildungsministerin sind da. Nur einer fehlt: Verkehrsminister Volker Wissing – er hatte in einem Gastbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen Rückzug aus der Koalition als „respektlos“ bezeichnet.
Aber zurück zu Lindner. Seine Vorschläge zur „Wirtschaftswende“ hätten SPD und Grüne nicht einmal als „Beratungsgrundlage“ akzeptiert. So liest er es von einem Spickzettel ab, dann geht er zum Kanzler über. Der habe lange die Notwendigkeit verkannt, dass Deutschland einen wirtschaftlichen Aufbruch benötige, die Sorgen der Bürger „verharmlost“. Scholz‘ eigene Vorschläge? „Matt“ und „unambitioniert“, meint Lindner, praktisch: zum Scheitern verurteilt.
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Der ganze Tag hat es in sich, eine Sitzung reiht sich an die andere. Um kurz nach 18 Uhr treffen sich die Spitzen der drei Ampel-Parteien im Kanzleramt. Es gibt Rinderschulter zur Stärkung. Die Gardinen werden zugezogen, nichts soll nach außen dringen. Die Lage: brisant. In mehreren Dreiergesprächen zwischen Scholz, Lindner und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Morgen und am Mittag war man sich vorher näher gekommen, eine Einigung gab es nicht.
Das Problem: Scholz drängt darauf, die Notlage auszurufen und die Schuldenbremse zu überschreiten. Die vielen Milliarden für die Ukraine, so die Argumentation, könnten so ausgelagert werden können. Das Geld, das man dadurch im Kernhaushalt spare, könne man für andere Dinge verwenden. Ein Papier liegt vor, mit Hilfen für die Wirtschaft und für die Autoindustrie. Lindner lehnt die Vorschläge nicht grundsätzlich ab, betont aber, das Thema mit seinen Leuten besprechen zu müssen. Man zieht sich zurück. Jede Partei in einen separaten Saal im 6. Stock des Kanzleramts.
Plötzlich verschärft Olaf Scholz den Kurs
Um 18 Uhr, im Koalitionsaussschuss, verschärft der Kanzler nach stern-Informationen den Kurs. Er habe einen klaren Weg aufgezeigt, wird er wiedergegeben, die FDP müsse nun sagen, ob sie bereit sei mitzugehen. „Ich brauche jetzt eine Ansage von Euch, ich brauche ein Ja oder Nein.“
Lindner sagt dem Vernehmen nach, er habe dem Kanzler ja schon am Sonntag vorgeschlagen, Richtung Neuwahlen zu Jahresbeginn zu gehen, in einem „geordneten Prozess“, wie die FDP-Seite später angibt. Wieder ziehen die drei Seiten sich zurück, beraten sich, rund 30 Minuten lang.
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Dann platzt eine „Bild“-Meldung in die Runde: Lindners Vorschlag ist öffentlich. Die SPD lastet den Vertrauensbruch Lindner und seinen Leuten an. Der Ärger ist riesig. Scholz ruf den Bundespräsidenten an, dann schmeißt er Christian Lindner raus. Es ist das Ende der Ampel.
Die Erzählung des sozialdemokratischen Fraktionschefs Rolf Mützenich geht nach der Sondersitzung seiner Fraktion so: „Herr Lindner hat heute dem Bundeskanzler Neuwahlen abverlangen wollen. (…) Das war ein schwerwiegender Vertrauensbruch.“ Die FDP habe die Information an die Presse durchgestochen. „Eine grobe Indiskretion“, sagt Mützenich. Scholz habe keine andere Wahl als die Entlassung gehabt.
Die Demontage des Christian Lindner
21.18 Uhr, Kanzleramt. Scholz tritt nach dem Koalitionsausschuss vor die Presse. Das Gesicht ernst, verkniffen. Was folgt, ist eine Abrechnung, eine Demontage von Christian Lindner. „Zu oft wurden Kompromisse übertönt durch öffentlich inszenierten Streit. Zu oft hat der Bundesminister Lindner Gesetze sachfremd blockiert. Zu oft hat er kleinkariert parteipolitisch taktiert. Zu oft mein Vertrauen gebrochen“, giftet Scholz.
Der inhaltliche Konflikt rückt schon jetzt in den Hintergrund. Ab diesem Moment, allerspätestens, geht es um die Deutungshoheit dieses Koalitionsbruchs. Die Schuldfrage. Vertrauen. Scholz‘ Rede wirkt gut vorbereitet, klar, persönlich. So hat man den Kanzler lange nicht erlebt. „Schönen Abend“, sagt Scholz zum Schluss. Sein Kanzleramtsminister fasst den Abend später treffender zusammen: „What a day“, twittert Wolfgang Schmidt um 0:50 Uhr aus dem leeren Kanzleramt.
Bei den Grünen regiert an diesem Mittwoch… ja, was eigentlich? Der Unglaube? „Was ist heute überhaupt passiert?“, fragt Co-Fraktionschefin Britta Haßelmann, die kurz nach draußen vor den Fraktionssaal gekommen ist. Niemand bei den Grünen habe sich gewünscht, dass man am Ende ohne die Ampel dastehe. Es wirkt wie so oft zuletzt: Die Grünen gehören dieser Koalition eher als Anhängsel an, mitgehangen mitgefangen.
Der Schuldige ist für die Grünen klar: Sein Vorname lautet Christian. Wütend sei sie, sagt Haßelmann. Sie spricht von Egoismen, von Destruktivität, „insbesondere von Christian Lindner und Teilen der FDP“. Das hätte die Koalition bis zum Bruch belastet. Deutlicher noch wird der frühere Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter: „Ja, das Land ist besser dran als mit einem Minister Lindner, der die Realität ausblendet“, sagt er in die Handykameras von Journalisten.
Robert Habeck hat es weniger leicht. Er verlässt die Sondersitzung der Grünen schon um 23 Uhr – noch bevor diese zu Ende ist. Der Vizekanzler wird in den „Tagesthemen“ zugeschaltet. Die Entscheidung des Abends fühle sich „nicht richtig“ an, sagt Habeck dort. „Es gab Möglichkeiten genug, wenn man gewollt hätte, hätte man es machen können.“ Er habe den Eindruck gehabt in „den letzten Wochen und Tagen“, dass Lindner einen Weg aus der Regierung gesucht habe.
In der Union isst man das Popcorn
Christian Lindner sieht das alles etwas anders. Scholz habe „ultimativ“ von ihm verlangt, die grundgesetzlich festgeschriebene Schuldenbremse auszusetzen. Pistole auf die Brust. Was mit dem FDP-Chef nicht zu machen gewesen sei, schon allein wegen seines Amtseids, erläutert Lindner. Und zeigt mit dem Finger auf den Kanzler: „Sein genau vorbereitetes Statement belegt, dass es Olaf Scholz längst nicht mehr um eine für alle tragfähige Einigung ging, sondern um einen kalkulierten Bruch dieser Koalition“.
Übersetzt heißt das: Ich war‘s nicht, der die Ampel zerstört hat. Der Kanzler habe die Sprengung von langer Hand geplant. Das ist dann vielleicht auch die letzte Gemeinsamkeit, die der Ampel geblieben ist: Schuldzuweisungen können sie, über das Ende hinaus. Lindners Statement dauert kaum vier Minuten – „Ich danke Ihnen“ –, dann verschwindet der (Ex-)Finanzminister im FDP-Fraktionssaal. Drinnen gibt’s lang anhaltenden Applaus.
Ein anderer Akteur muss an diesem Abend gar nichts tun. Nur genießen. Es ist Friedrich Merz. „Wir machen uns heute Popcorn auf.“ Diesen Satz hört man häufiger aus der Union an diesem Abend.