Am 23. November entscheidet sich, ob das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit der CDU regieren wird. Kurz vorher gibt es im BSW einen seltsamen Zuwachs an Mitgliedern.
Der Dienstagnachmittag im Paul-Löbe-Haus, dem Abgeordnetenraumschiff zwischen Kanzleramt und Reichstagsgebäude. Sahra Wagenknecht, die Vorsitzende des Bündnisses Sahra Wagenknecht und der zugehörigen Gruppe im Bundestag, steht vor einem Dutzend Journalisten. Wie zu Beginn jeder Sitzungswoche gibt sie eine Stellungnahme ab.
Während Wagenknecht ohne größere Regung in die Objektive der Fernsehkameras schaut, referiert sie eine Viertelstunde lang über das aus ihrer Sicht überfällige Aus der Ampel-Regierung („Scholz muss die Vertrauensfrage stellen“) und die US-Präsidentschaftswahlen („Wahnsinn oder Weiter-so“).
Doch die erste Frage aus dem Pressepulk betrifft nicht die Lage in Berlin oder in Washington – sondern in Erfurt. Warum habe der Bundesvorstand zuletzt offenbar 21 neue Mitglieder in Thüringen aufgenommen – und dies am Landesverband vorbei?
Bündnis Sahra Wagenknecht: Ein seltsamer Zuwachs an Mitgliedern
Sahra Wagenknecht lächelt kühl. Es gebe in ihrer Partei „eine Arbeitsteilung“, antwortet sie. Die „Aufnahme von Mitgliedern“ und der „Aufbau der Organisation“ sei nicht „die Aufgabe der Vorsitzenden“, also ihr. Aber habe sie nicht der Entscheidung im Vorstand mitgewirkt? In jeder Parteivorstandssitzung werde die Aufnahme neuer Mitglieder beschlossen, sagt sie.
Alles Routine also? Von wegen.
Nach Informationen des stern soll die Thüringer Landespartei binnen weniger Tage um ein Drittel gewachsen sein. Und dieses Drittel, in der Summe 30 Mitglieder, wurde offenbar vor allem nach einem Kriterium aufgenommen: der Loyalität zu Wagenknecht in ihrer Auseinandersetzung gegen die Landesvorsitzende Katja Wolf.
Der Vorgang ist politisch brisant. Denn am 23. November, nach dem bis dahin erhofften Abschluss der Koalitionsverhandlungen, soll ein Mitgliederparteitag in Thüringen beschließen, ob das BSW in eine Regierung mit CDU und SPD geht. Nach jetzigem Stand ist Wolf dafür – und Wagenknecht eher dagegen. Sahra Wagenknecht Interview
Damit drängt sich der Verdacht auf, dass die Neuaufnahmen die Mehrheit im Landesverband zugunsten der Bundesvorsitzenden beeinflussen soll. Und der Verdacht wird nicht kleiner dadurch, dass Generalsekretär Christian Leye, einer der engsten Getreuen der Parteichefin, hartnäckig dazu schweigt. Der Mann, der zweifellos für die Organisation des Parteitaufbaus zuständig ist, ließ alle Anfragen des stern unbeantwortet.
Doch zumindest grob lässt sich das wundersame Wachstum des BSW rekonstruieren. Die Geschichte begann im Sommer, während des Landtagswahlkampfs. Damals lag die Mitgliederzahl bei etwa 65. Der Landesvorstand hatte mit der Parteispitze vereinbart, dass der Bundesvorstand auf Vorschlag aus den Regionalverbänden pro Monat zwölf neue Mitglieder aufnehmen würde. Denn der Landesverband selbst hat dazu – so läuft das in der Wagenknecht-Partei – kein Recht.
Der Konflikt brach offen aus
Weil gerade drei Mitglieder ausgetreten oder zur Werteunion von Hans Georg Maaßen gewechselt waren, wurde Anfang August eine Liste mit 15 Namen von Erfurt nach Berlin geschickt. Weil man in der Landespartei mit einem raschen Vollzug rechnete, sprach man er seitdem bei Nachfragen der Presse von gut 80 Mitgliedern.
Doch die Zahl war falsch. Denn die Bundesgeschäftsstelle bearbeitete die Mitgliederanträge offenbar nicht, was wiederum die Landespartei nicht erfuhr. Parallel dazu wurde den Thüringern beschieden, dass vorerst keine zusätzlichen Anträge akzeptiert würden. In einer internen Videoschalte mit Erfurt erklärte Leye am 13. Oktober, dass der Landesverband in Relation zu anderen Gliederungen zu groß sei. Deshalb müsse erst einmal eine Pause eingelegt werden.Kommentar Thüringen 19.20
Dann, am 28. Oktober, brach der seit Längerem schwelende Konflikt zwischen den Führungen von Bund und Land offen aus. Landeschefin Wolf verkündete gemeinsam mit den Amtskollegen von CDU und SPD den Formelkompromiss zur sogenannten Friedensfrage – und dies, obwohl Wagenknecht deutlich Einspruch erhoben hatte.
Unmittelbar danach begann die Parteivorsitzende, den Machtkampf zu eskalieren. Sie nannte die Vereinbarung öffentlich „einen Fehler“; die persönlichen Attacken auf Wolf überließ sie ihren Bundesvorstandskollegen.
Wolf: „Ich bin etwas verwundert“
Schließlich, zwei Tage nach dem Erfurter Eklat, schaltete sich die Bundesspitze zu einer Sondersitzung zusammen. Sie bekräftige noch einmal kollektiv, dass das Thüringer BSW zu wenig erreicht habe. Falls keine größeren Nachbesserungen erreicht würden, müsse es in die Opposition gehen.
Und: Es wurden neue Mitglieder in Thüringen aufgenommen. Es waren wohl 21.
Als am nächsten Morgen das Gerücht von den Spontanaufnahmen durch die Partei waberte, stellte der stern mehrere Anfragen an die Bundesspitze. Am Ende antwortete Wagenknecht selbst. „Wir haben auf dem Parteivorstand auch wieder Mitglieder aus verschiedenen Landesverbänden aufgenommen, darunter auch aus Thüringen“, erklärte sie. Dies entspreche „dem ausdrücklichen, schon seit längerem artikulierten Wunsch der Thüringer“, dass der Landesverband wachse.
Wolf reagierte überrascht. „Ich bin etwas verwundert“, sagt sie der „Thüringer Allgemeinen“. Wagenknechts Aussicht war mindestens irreführend. Denn nach allem, was aus der Partei zu erfahren ist, hatte ihr Bundesvorstand die Thüringer Vorschläge nicht berücksichtigt.
Ganz im Gegenteil. Nach Informationen des stern rekrutierte Berlin vor allem Mitglieder, die teils schon vor zu Jahresbeginn Anträge gestellt hatten, aber wegen Bedenken in Erfurt zurückgestellt wurden. Inzwischen sollen noch neun weitere Thüringer per Umlaufbeschluss des Bundesvorstandes aufgenommen worden sein, womit sich die Zahl der Neumitglieder auf 30 erhöht hätte.
Keine Auskunft aus Berlin
Auch dazu gibt es keine Auskunft aus der Bundespartei. Dem Landesverband ergeht es nicht besser. „Zur Anzahl der Mitglieder sind wir zurzeit leider nicht aussagefähig“, sagte Landeschefin Wolf am Dienstag dem stern. Der Bundesvorstand habe „ohne Rücksprache mit dem Landesvorstand“ neue Mitglieder aufgenommen: „Die genaue Anzahl ist mir nicht bekannt, eine Information ist bisher nicht erfolgt.“
Damit lässt sich nur begründet mutmaßen, dass es derzeit etwa 95 BSW-Mitglieder in Thüringen gibt, von denen ein Drittel in den vergangene Tagen aufgenommen wurde. Dies produziert nicht nur die theoretische Frage nach der demokratischen Verfasstheit des BSW, sondern auch eine ganze praktische Frage: Sind die neuen Mitglieder auf dem Landesparteitag in zweieinhalb Wochen stimmberechtigt? Entscheidend dürfte sein, wen die Landespartei auf Basis welchen Stichtags einlädt.
Unklar ist auch, ob Wagenknecht persönlich zum Parteitag kommt. Das habe sie noch nicht entschieden, sagte sie am Dienstag im Paul-Löbe-Haus. Aber: „Wir werden die Probleme klären, die aktuell in Thüringen existieren“.