“Ich komme aus einem kleinen Ort. Mich kennt jeder und ich werde oft darauf angesprochen, was passiert ist. Dann kommen mir die Tränen” – Jürgen Seng, 59, erlebte in der Hochwasser-Region einen Erdrutsch.
Am Samstagabend dachte Jürgen Seng, er würde sterben. Der heftige Regen in Schwäbisch Gmünd im Ostalbkreis hatte Hochwasser und einen Erdrutsch von 30 Metern Breite ausgelöst. Die Schlamm-Masse traf zwei Waggons des ICE 510 mit 185 Fahrgästen – und ein Auto. Darin saß Seng, 59, Lokführer und AfD-Lokalpolitiker. Hier erzählt er von seinem traumatischen Erlebnis.
Ich fuhr mit dem Auto vom Dienst zurück nach Hause, nach Lorch. Ich war auf einer Nebenstraße unterwegs, die leergefegt war. Es gibt auch eine breite, vierspurige Bundesstraße auf der Strecke. Wäre ich die gefahren, wäre nichts passiert. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich dagegen entschieden habe.
Es war 23.20 Uhr, also dunkel, und ich war nur fünf Kilometer von daheim entfernt. Es hatte drei Tage am Stück geregnet, alles war matschig. Rechts von mir ging es steil einen Hang hoch, links von mir war die Bahnlinie.
Plötzlich, aus heiterem Himmel, sind vor mir Bäume auf die Straße gekracht. Ich habe sofort eine Vollbremsung gemacht und konnte – Gott sei Dank – die Geschwindigkeit auch noch entscheidend verringern. Trotzdem bin ich reingerauscht. Ich dachte: „Oh Gott.“ Aber kaum hatte ich zu Ende gedacht, ging es von oben am Hang los.
„Als kurz Ruhe war, habe ich aus Neugier die Tür aufgemacht“
Ein Baum nach dem anderen fiel herunter: Bumm, bumm, bumm. In Sekundenabständen auf mein Auto, auf die Straße und auf die Gleise. Ich dachte: Hoffentlich erschlägt mich keiner – oder ein Ast kommt durchs Fenster. Ich habe auch gehört, wie der ICE über irgendetwas drüber gedonnert und dann entgleist ist.
Ist froh, überlebt zu haben: Jürgen Seng
© Privat
Als kurz Ruhe war, habe ich aus Neugier die Tür aufgemacht. Es war ja dunkel und ich wollte schauen, was eigentlich passiert ist. Gott sei Dank bin ich nicht ausgestiegen! Denn in diesem Moment kam der Schlamm hinterher. Lautlos. Man hat nichts gehört, aber die Schlammmasse hat das Auto weiter bewegt. Ich war umzingelt von Matsch und habe die Autotür nicht mehr zubekommen. Ich bin im Auto sitzen geblieben, weil ich nicht wusste, was noch kommt und habe erst die Polizei angerufen und dann meine Frau. Ihre erste Frage war: „War es schlimm?“ Ich sagte: „Ja.“
PAID: Traumapsychologe über Hochwasser 18.14
Die Einsatzkräfte waren schnell da, sie kamen mit Blaulicht und Martinshorn. Ich habe die Fahrzeuge erst gar nicht gesehen, um mich herum war ja alles voll mit Dreck, Geröll und Holz. Nur die Lichter habe ich erkannt. Und ich dachte: „Vielleicht sehen die mich ja auch nicht?“ Ich bin auf meinem Sitz aufgestanden, habe mich so groß wie möglich gemacht und mit der Taschenlampe herumgefuchtelt, damit die auf mich aufmerksam werden. Dann habe ich gewartet, bis jemand bei mir war. Zum Glück war die Tür offen, ich hätte sonst aus dem Fenster klettern müssen.
Es schien mir, als waren da 50 Feuerwehrautos, so viele habe ich noch nie im Leben gesehen. Die Einsatzkräfte haben mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Mir wurde gesagt, ich soll die Flatter machen, weil man nicht wisse, ob noch eine zweite Schlammlawine kommt. Also bin ich zu Fuß losgegangen. Ein paar Hundert Meter weiter haben meine Frau und mein Vater im Auto gewartet. Die wollten eigentlich zu mir, wurden aber nicht durchgelassen.
„Ich werde oft darauf angesprochen, was passiert ist“
In diesem Moment hat es geregnet, ohne Ende, wolkenbruchartig. Die beiden haben gesagt, ich soll einsteigen, weil es so regnet. Aber ich war so aufgewühlt. Ich konnte mich nicht einfach wie ein Lamm in das Auto setzen. Ich habe gesagt: „Ist mir egal, wenn ich nass werde.“ Also bin ich hin und hergelaufen. Irgendwann fuhren wir nach Hause. Da habe ich geweint.
Sonntagmorgen um 9.30 Uhr rief mich mein oberster Chef an und erkundigte sich, wie es mir ginge. Das fand ich sehr nett. Ich habe gefragt: „Woher weißt du das?“ Und er meinte: „Es spricht sich rum.“ Ich komme aus einem kleinen Ort. Mich kennt jeder und ich werde oft darauf angesprochen, was passiert ist. Dann schießt mir in den Kopf, wie es hätte ausgehen können und mir kommen die Tränen. Auch jetzt noch, drei Tage später. Weil, Herrgott, ich habe echt unfassbar großes Glück gehabt! Ich habe keinen Kratzer abbekommen.
Ich hätte nicht gedacht, dass mich das so mitnimmt. Meine Firma hat mir psychologische Beratung angeboten. Erst habe ich das abgelehnt und sagte: „Das vergeht schon wieder.“ Aber jetzt habe ich doch zugestimmt. Ich bin nicht krankgemeldet, denn ich bin nicht verletzt und auch nicht krank. Aber mein Chef sagte, er will mich erst einmal eine Weile nicht sehen. Da werde ich geschützt.
Ich bin Lokführer. Dass Baumstämme auf der Strecke stürzen oder irgendwelche Vollidioten Metallplatten auf die Gleise legen, kann jede Sekunde passieren. Aber auf das, was mir passiert ist? Ich weiß nicht, ob man sich darauf vorbereiten kann. Das ist die Natur, das wird es immer geben, Hochwasser, Tsunamis, ein Vulkanausbruch oder ein Blitzeinschlag. Ich habe in hundert kalten Wintern nicht damit gerechnet, dass das mir passieren könnte – und auch nicht hier in der Region. Ich habe solches Glück, dass ich überlebt habe.