Er gilt bei den Grünen als aussichtsreichster Kandidat für das Erbe Kretschmanns – nun ist klar: Cem Özdemir will Spitzenkandidat bei der Landtagswahl 2026 werden. Die Ausgangslage ist verzwickt.
Der mehrseitige Brief, den Cem Özdemir an die Bürgerinnen und Bürger im Land schreibt, mit dem er die große Nachricht verkündet – der Brief beginnt, als würde ihn niemand kennen. „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, mein Name ist Cem Özdemir.“ Dabei stammt der 58-Jährige aus dem Ländle, ist Bundesminister, zählt zu den prominentesten Politikern der Republik. Und gerade weil er so bekannt ist, malt er sich Chancen aus, ins Staatsministerium in Stuttgart einzuziehen – mögen die Grünen auch gerade am Boden sein. Auf der Plattform Instagram fasst Özdemir sich am Freitag kurz: „Ich mach’s“. Er wolle Ministerpräsident seiner wunderbaren Heimat werden.
Dort, in Baden-Württemberg, steht im Frühjahr 2026 die nächste Landtagswahl an. Amtsinhaber Winfried Kretschmann (Grüne) tritt dann nicht mehr an. Özdemir wird seit langem als aussichtsreichster Kandidat für die Spitzenkandidatur gehandelt. Nur der 58-Jährige sei ähnlich bekannt wie Kretschmann, war aus der Partei in den vergangenen Monaten übereinstimmend zu hören gewesen. Zudem könne der Bundesagrarminister auf eine lange politische Erfahrung zurückgreifen und wird wie Kretschmann zum pragmatischen „Realo“-Flügel seiner Partei gezählt.
In einem Brief an die Bürgerinnen und Bürger schreibt Özdemir, er wolle ihnen als Ministerpräsident dienen und alles für das Land geben. In dem vierseitigen Schreiben umreißt er seine eigene Geschichte, beschreibt, wie Baden-Württemberg seine Werte, seine Überzeugungen und seine Sicht aufs Leben geprägt habe. Er umreißt aber auch politische Ziele: neuer Wohlstand, beste Bildung für alle, Sicherheit und Klimaschutz.
Große Freude in der Partei – und wohl auch Erleichterung
In seiner Partei ist die Freude, und wohl auch die Erleichterung, groß, dass Özdemir antreten will. „Cem Özdemir bringt alles mit, was Baden-Württemberg braucht“, teilt Ministerpräsident Kretschmann mit. Özdemir habe Regierungserfahrung und sei eine über Parteigrenzen hinweg geschätzte Persönlichkeit. Er habe bewiesen, dass er Rückgrat habe und auch vor schwierigen Herausforderungen nicht zurückschrecke. „Als gebürtiger Schwabe ist er tief mit unserem Land verwurzelt und kennt die Anliegen und Bedürfnisse der Menschen – sowohl auf dem Land als auch in den Städten.“ Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagt, Özdemir sei „der Beste aus dem Ländle fürs Ländle“, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nennt ihn „einen bodenständigen Pragmatiker“.
Fraktionschef Andreas Schwarz (Grüne) sagt über Özdemir: „Seine Biografie steht für alles, was dieses Land stark macht.“ Die Parteichefs im Südwesten, Lena Schwelling und Pascal Haggenmüller (beide Grüne), sehen in Özdemirs Kandidatur „eine großartige Nachricht“. Mit Özdemir wolle man die grüne Erfolgsgeschichte in Baden-Württemberg fortsetzen. „Wir nehmen innerhalb der Partei eine große Geschlossenheit wahr“, so die Parteichefs.
Grüne Jugend fordert keine Alleingänge
Bei der Grünen Jugend bricht man allerdings nicht gerade in Jubelstürme aus. „Politik ist mehr als nur einzelne Personalentscheidungen. Cem Özdemir muss beweisen, dass er auch bei Gegenwind für die Werte und Beschlüsse der Partei eintritt“, betont der Landeschef der Grünen Jugend Baden-Württemberg, Tim Bühler, einer Mitteilung zufolge. Man werde keinen Alleingang und kein Abdriften nach rechts akzeptieren, so Bühler.
Der wohl aussichtsreichste Herausforderer Özdemirs wird der neue CDU-Landesvorsitzende und Fraktionsvorsitzende Manuel Hagel. Der 36-Jährige ist der neue starke Mann der CDU im Ländle und löste Ende 2023 Landesinnenminister Thomas Strobl als Chef der Südwest-CDU ab. Er wolle Özdemir nicht angreifen, sagte Hagel im Sommer noch in einem SWR-Interview. Er äußerte sich auch zunächst nicht zur Kandidatur Özdemirs.
Nach der Verkündung übernimmt das für die Christdemokraten die Landesgeneralsekretärin Nina Warken (CDU). Sie greift den Grünen kurz nach der Verkündung scharf an: „Nach der Berliner SPD-Ampelministerin Faeser in Hessen versucht die Berliner-Ampel jetzt ihre zweite Fachkraft in die Landespolitik weg zu versorgen“, erklärte Warken mit Blick auf Bundesinnenministerin Nancy Faeser. „Das B in Baden-Württemberg steht aber definitiv nicht für Plan B. Unser Land ist zu schade als Alternative für die gescheiterten Außenminister-Karrieresehnsüchte des Herrn Özdemir.“
Wahl dürfte große Herausforderung für Grüne werden
Die Vorzeichen für Özdemirs Kandidatur könnten auch mit Blick auf die Umfragen besser sein: Die Landtagswahl im Frühjahr 2026, für die ein genauer Wahltermin noch nicht feststeht, dürfte für die Grünen eine große Herausforderung werden. In Meinungsumfragen lag die CDU im Südwesten zuletzt mit mehr als zehn Prozentpunkten Vorsprung deutlich vor den Grünen – auch bei der Europawahl musste die Ökopartei teils heftige Verluste in allen Stadt- und Landkreisen Baden-Württembergs hinnehmen.
Bei der Landtagswahl im März 2021 hatten die Grünen 32,6 Prozent erreicht, die CDU kam auf 24,1 Prozent, die SPD auf 11, die FDP auf 10,5 und die AfD auf 9,7 Prozent.
Und auch die Menschen im Südwesten glauben eher, dass der nächste Ministerpräsident Manuel Hagel heißen könnte. Einer Erhebung des Forschungsinstituts Kantar zufolge halten es 46 Prozent der Befragten für wahrscheinlich, dass der CDU-Spitzenmann die nächste Landtagswahl gewinnt. Özdemir trauen das nur 23 Prozent der Befragten zu, wie aus dem „Baden Württemberg Report“ für Oktober im Auftrag von Privat.Radio hervorgeht.
Sohn türkischer Gastarbeiter aus Bad Urach
Bei den Grünen wird mit Blick auf die aktuelle Umfragesituation allerdings gerne auf das Jahr 2015 verwiesen. Damals sahen die Umfragen die CDU mit mehr als 15 Prozentpunkten vor den regierenden Grünen – bei der Landtagswahl im Jahr 2016 gewannen letztere dann aber dennoch, und Kretschmann blieb Ministerpräsident.
Özdemir stammt aus Bad Urach am Fuße der schwäbischen Alb und ist ein Sohn türkischer Gastarbeiter. Nach der Mittleren Reife und einer Ausbildung zum Erzieher studierte er Sozialpädagogik. Seit 1981 ist er Mitglied der Grünen, von 2008 bis 2018 war er Bundesvorsitzender der Partei. 1994 wurde er in den Bundestag gewählt – als erster Abgeordneter mit türkischen Wurzeln.
Auf Ärger um dienstlich gesammelte, aber privat genutzte Bonusmeilen und einen Privatkredit folgte ab 2002 eine bundespolitischen Auszeit in den USA und Brüssel. Von 2004 bis 2008 war Özdemir Mitglied im EU-Parlament. Seit 2013 sitzt er wieder im Bundestag, 2021 holte er im Wahlkreis Stuttgart I mit 40 Prozent der Erststimmen das Direktmandat. Im Dezember 2021 wurde er im Ampel-Kabinett von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zum Bundeslandwirtschaftsminister.
Bei den Landwirten ist der Grüne nicht durchgängig gut gelitten. Zwar hat sich Özdemir früh von der Entscheidung der Bundesregierung distanziert, die steuerlichen Vergünstigungen beim Agrardiesel abschaffen zu wollen. Den Zorn der Bauern bekam er trotzdem voll ab.