Sie war Chefanklägerin bei den Cum-Ex-Fällen in Deutschland, bis sie den Job auch aus Frust über mangelnden Aufklärungswillen schmiss. Beim Besuch Anne Brorhilkers im Hamburg Rathaus gibt es Andrang.
Mehr als 500 Menschen sind am Abend zu einem Auftritt der ehemaligen Cum-Ex-Chefanklägerin Anne Brorhilker ins Hamburger Rathaus gekommen. Die frühere Kölner Oberstaatsanwältin, die im April – verbunden mit scharfer Kritik an der aus ihrer Sicht unzureichenden Aufarbeitung des Steuerskandals – um Entlassung aus dem Staatsdienst gebeten hatte, war auf Einladung der Linken in der Bürgerschaft nach Hamburg gekommen. Inzwischen ist sie bei der NGO Finanzwende als Co-Geschäftsführerin tätig.
Der Große Festsaal des Rathauses war voll besetzt. „Wir mussten etwa 200 Leute wieder nach Hause schicken“, sagte der Linken-Abgeordnete Norbert Hackbusch, der für seine Fraktion im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Cum-Ex-Affäre sitzt. Er kündigte an, wegen des großen Interesses baldmöglichst eine zweite Veranstaltung mit Brorhilker organisieren zu wollen.
Politik und Behörden machten es Cum-Ex-Betrügern leicht
Die 51 Jahre alte Juristin verurteilte die kriminelle Energie, mit der Banker und Finanzinstitute durch Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte den Staat um viele Milliarden Euro Steuergeld gebracht hätten. Der Schaden durch Cum-Ex liege allein in Deutschland bei etwa zehn Milliarden Euro. Durch Cum-Cum-Geschäfte sei der Staat um fast 30 Milliarden Euro betrogen worden, wovon bisher lediglich ein Prozent zurückgeholt worden sei. Bei beiden „Geschäftsmodellen“ ließen sich Finanzakteure durch undurchsichtige Aktientransfers Steuern erstatten, die zuvor gar nicht gezahlt worden waren.
Behörden und Politik hätten es den Tätern leicht gemacht. „Das Entdeckungsrisiko war sehr gering, der Tatanreiz sehr, sehr hoch“, sagte Brorhilker. Auch komme den Tätern zugute, dass Wirtschaftskriminalität in der Gesellschaft häufig noch weniger geächtet sei als andere Verbrechen. „Wenn da mehr Stigmatisierung stattfinden würde, dann wäre das sicher etwas, was den einen oder anderen davon abhalten könnte.“
Cum-Ex-Fall Warburg zeige zu viel Nähe zwischen Banken und Politik
Den Cum-Ex-Fall bei der Hamburger Warburg Bank nannte sie „ein sehr plastisches Beispiel für zu viel Nähe zwischen Banken und Politik“. Aus den von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmten Tagebüchern des Warburg-Gesellschafters Christian Olearius war hervorgegangen, dass dieser 2016 und 2017 insgesamt dreimal vom späteren Bundeskanzler und damaligen Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) im Rathaus empfangen wurde – obwohl damals bereits wegen schwerer Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit Cum-Ex-Geschäften gegen Olearius ermittelt wurde.
Der genaue Inhalt der Treffen ist unklar. Fakt ist aber, dass die Finanzbehörde danach eine Steuerrückforderung über 47 Milliarden Euro fallen und diese nach Ansicht der an der Entscheidung Beteiligten in die Verjährung laufen ließ. Weitere 43 Millionen Euro wurden 2017 erst auf Weisung des Bundesfinanzministeriums kurz vor Eintritt der Verjährung eingefordert.
Dass ein kausaler Zusammenhang zwischen den Scholz-Olearius-Treffen und der Behördenentscheidung besteht, ist nicht erwiesen. Scholz schließt eine Einflussnahme aus, beruft sich bei der Frage nach dem Inhalt der Gespräche aber auf Erinnerungslücken.
Brorhilker: Cum-Ex funktioniert nur über Netzwerke
Cum-Ex funktioniere nur über Netzwerke, sagte Brorhilker. „Und deshalb glaube ich, dass der Hamburger Fall ein sehr typischer ist.“ Zu ihren früheren Ermittlungen als Staatsanwältin äußerte sie sich aufgrund der Verschwiegenheitspflicht nicht. Brorhilker galt als wichtigste Ermittlerin im Cum-Ex-Steuerskandal. In rund 120 Verfahren wurde in Köln unter ihrer Führung gegen 1.700 Beschuldigte ermittelt.