Im Fall Thomas Gottschalk geht es um viel mehr, als das Knie von Verona Feldbusch. Unser Kolumnist blickt auf den größeren Zusammenhang
Der Bibelvers für diese Woche steht im Evangelium des Matthäus in Kapitel 25, Vers 45: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“
In diesem Text geht es nicht um Thomas Gottschalk.
Nein, wirklich nicht.
Man könnte nun ähnlich wie René Magritte in seinem weltberühmten Bild „La trahison des images“ („Der Verrat der Bilder“) darüber debattieren, warum das Bild einer Pfeife nicht die Pfeife selbst darstellt. Und in welcher komplizierten Wechselwirkung Objekt, Bezeichnung und Repräsentation zu einander stehen. Und was unser Vorstellungsvermögen mit unserem Verständnis von Realität zu tun hat. Und warum ein Text, der nicht von Thomas Gottschalk handeln will, dennoch von Thomas Gottschalk handeln muss. Und ob Thomas Gottschalk, um in unserem Bild zu bleiben, nun eine Pfeife ist oder nicht.
Nein. Auch davon soll dieser Text nicht handeln.
Vorrangig geht es in dieser Woche um übergriffige Männer, um abgehalfterte Medienprominente und weinerliche Alte mit schrumpfendem Selbstbewusstsein bei gleichzeitig sinkender gesellschaftlicher Relevanz. Wenn Sie, verehrte Leserin und verehrter Leser nun an konkrete Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens denken müssen, dann ist das erst einmal Ihr Problem. Auch wenn ich natürlich verstehen kann, wo das alles herkommt und was das alles miteinander zu tun hat.
Ortstermin Thomas Gottschalk 10.30
Vielleicht also mit etwas mehr Präzision: In diesem Text geht es nicht nur um Thomas Gottschalk.
Wer in diesen Tagen Inhaber einer Kultur-, Gesellschafts- oder Innenpolitik-Kolumne ist, kommt an Thomas Gottschalk als Medienphänomen kaum vorbei. So wie in Buchhandlungen Krimis nach „Deutschland„, „Ausland“ und „Eifel“ sortiert werden, so teilen sich die Kolumnen dieser Tage in „Rechts“, „Links“ und „Thomas Gottschalk“.
Worum es dabei eigentlich geht, scheint niemand mehr so genau zu wissen. Das zarte Knie von Verona Feldbusch (heute Pooth) vermischt sich dabei mit der zarten Wange von Gottschalks Sohn Tristan. Das Knie wurde dienstlich berührt, die Wange empfing eine private Ohrfeige. Ich weiß nicht, ob ich in der Rückschau lieber Verona Feldbusch oder Tristan Gottschalk wäre. Die Tugendwächter des digitalen Raums jedenfalls schreien auf angesichts der vergangenen Übergriffe und erklären in Länge und Breite, warum man Frauen nicht ungefragt anfassen, Kinder nicht schlagen und Ausländer nicht mit Schimpfwörtern überziehen soll. Dabei war das doch früher alles normal! Zumindest hat es niemanden gestört, wenn man von den Frauen, Kindern und Ausländern einmal absieht.
Dass man das, was früher selbstverständlich war, nicht mehr tun und sagen darf, scheint manche Menschen derart zu verärgern, dass sie darüber Bücher schreiben, Interviews geben und die öffentliche Demontage ihrer Reputation in Kauf nehmen.
IV Beisenherz Gottschalk 16:19
Gottschalk ist bei alledem wahrlich nicht allein.
Als Harald Welzer und Richard David Precht in Talkshows miterleben müssen, dass man ihre Position zum russischen Angriff auf die Ukraine kritisiert, verfassen sie ein Buch, zu dessen Verlagsankündigung es heißt, die deutschen Medien hätten sich „selbst gleichgeschaltet“. Gleichschaltung – wie in der Propagandapolitik der Nationalsozialisten.
Als Dieter Nuhr für seine Grenzüberschreitungen viel Kritik erfährt, erzählt er bei mehreren Gelegenheiten, dass der „Shitstorm“ die „humane Variante des Pogroms“ sei. Auf die ungläubige Nachfrage, ob er damit nicht die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung relativiere, beharrt Nuhr auf seine Worte. Es sei zwar ein überspitzter Vergleich, aber eben deshalb ja die „humane Variante“ des Pogroms.
Peter Hahne hat sich darauf verlegt, Bücher zu schreiben, die „Sprachpolizei“, „Bürokraten-Terror“, „Lug und Trug der Eliten“, „Volksverdummung“ und „Ideologie“ anprangern. Eines der Bücher heißt „Rettet das Zigeuner-Schnitzel!“.
Dieses verfluchte Schnitzel.
Entweder wissen die Deutschen tatsächlich nicht, dass ihre Eltern und Großeltern zur „Regelung der Zigeunerfrage“ Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau im „Zigeunerlager“ zusammengetrieben, ihnen ein „Z“ in die Arme (den Kindern wegen der größeren Fläche in die Beine) geritzt, sie in Gaskammern ermordeten und insgesamt 500.000 Menschen aus zutiefst rassistischen Gründen vernichtet haben – oder es ist ihnen egal. Jedenfalls möchten Sie nicht darauf verzichten, Sauce und Schnitzel weiterhin mit der Beleidigung „Zigeuner“ zu versehen.
Nicht einmal diese Ungeheuerlichkeit ist in Deutschland verboten, sodass in jeder dritten Schankwirtschaft im Sauerland ein Schnitzel dieses Namens erworben werden kann. Die Weinerlichkeit mit der ein erheblicher Teil unserer Bevölkerung auf die Kritik an solchen Geschmacklosigkeiten reagiert, lässt mich an der historischen Bildung und am Anstand meiner Landsleute zweifeln.
Dass mit Richard David Precht, Dieter Nuhr, Peter Hahne und Thomas Gottschalk ausnahmslos Menschen in die Öffentlichkeit drängen, die ihre Prominenz und ihren Reichtum dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk verdanken, der sich expressis verbis der internationalen Verständigung, der europäischen Integration und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt verschrieben hat, verleiht der Absurdität eine gewisse Krönung.
Als Thomas Gottschalk im Jahr 2019 die zweite seiner bisher drei Autobiographien in der Sendung „Lanz“ vorstellt, erzählt er etwas, was man zur Erklärung der gegenwärtigen Lage wunderbar heranziehen kann. Das folgende Zitat ist echt. Man kann es hier nachsehen.
„Ich hatte so eine ungebrochene untraumatisierte Biographie (…) und es gab nichts, was mich so richtig aus der Bahn geworfen hätte. Das Alter war das Erste (…) und ich habe gedacht, um Himmels Willen, was ist da los?“
Tja.
Menschen mit ungebrochener und untraumatisierter Biographie entdecken nun die Zipperlein des Alters. Und sie kommen damit offensichtlich und nach eigenem Bekunden nicht sonderlich gut zurecht. Sie verklären die Vergangenheit und schimpfen auf die Jugend. Was früher noch erlaubt (Kinder schlagen) und sagbar war („Zigeuner“), ist heute wahlweise verboten oder gesellschaftlich geächtet.
Als die britische Schauspielerin Diane Morgan in ihrer Rolle als „Philomena Cunk“ durch die US-amerikanische Landschaft wandert, sagt sie diesen wunderschönen, die Weltgeschichte in ihrer Einzigartigkeit zusammenfassenden Satz:
„America became known as the land of the free, which must’ve come as a surprise to all the slaves.“
Wer heute beklagt, dass früher alles besser war, sollte für einen kurzen Moment darüber nachdenken, welches Früher besser gewesen sein soll und vor allem für wen. Wenn Donald Trump „America“ wieder „great again“ machen will, werden die schwarzen US-Amerikaner diesen Satz anders hören als die weißen. Und ob sich die deutschen Frauen eine Zeit zurückwünschen, in der sie zur Eröffnung eines Bankkontos oder zur Antritt einer Arbeitsstelle erst die Zustimmung ihres Ehemannes einholen müssen, wage ich zu bezweifeln. Die gute alte Zeit der jungen Bundesrepublik, in der Schwule von der Polizei unerbittlich verfolgt und inhaftiert wurden, ist eher Schandfleck als Sehnsuchtsort.
Dass diejenigen, die jahrzehntelang eine ungebrochene untraumatisierte Biographie genossen haben, nun ihre greise Griesgrämigkeit offenbaren, ist das Eine. Dass sie damit auf Applaus und Jubel treffen, das Andere. Wer heute ohne größeres Risiko viele Bücher verkaufen will, muss nur feststellen, dass man nichts mehr sagen dürfe, dass man sich den Mund nicht verbieten lasse, dass man sich heroisch dem Tugend-Terror und der Sprachpolizei widersetzen werden. Wie damals. Als die Alliierten das Licht anknipsten und die große Mehrheit der Deutschen im Widerstand gewesen sein will.
Noch nie war eine Gesellschaft so frei wie die heutige und die unsere. Wir sollten uns von den weinerlichen, schlecht gelaunten und griesgrämigen Medien-Mimosen nichts anderes erzählen lassen.