Alicia T. ist mit der Sorge konfrontiert, dass ihre Töchter zu Hause vor ihrem zweiten Mann nicht sicher sind. Wie bedrohlich ist die Lage? Julia Peirano rät eindrücklich, den Kindern genau zuzuhören und das Zuhause als einen geschützten Ort zu erhalten.
Sehr geehrte Frau Peirano,
ich habe zwei Töchter aus erster Ehe, die jetzt 14 und 18 Jahre alt sind. Seid neun Jahren bin ich mit meinem zweiten Mann verheiratet und wir haben eine achtjährige gemeinsame Tochter.
Meine mittlere Tochter erzählt mir schon seit längerer Zeit, dass mein Ehemann sie anfasst. Er umarmte sie z.B. von hinten, oder zog sie einmal auch von hinten nach oben an seinem Körper hoch. Angeblich geschah das, weil sie Rückenschmerzen hatte. Nach diesem Ereignis kam ich nach Hause und sah Tränen in den Augen meiner Tochter und sie war komisch zu mir. Als ich sie fragte, was los ist, sagte sie mir, dass er sie plötzlich von hinten festgehalten und nach oben gezogen hat, sodass sie seinen Penis gespürt habe.
Mir schnürte sich der Hals zu. Ich musste das meinem Mann erzählen, um eine Aufklärung zu bekommen. Als ich ihm das erzählte, wurde er rot im Gesicht und hat es geleugnet. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass meine Tochter in der Pubertät ist und es falsch verstehen kann. Ich sagte ihm auch, dass er sie nie wieder anfassen soll. Er erklärte, dass sie Rückenschmerzen hatte und er sie deswegen gestreckt habe. Danach hat er sich bei mir entschuldigt und versprochen, so etwas nie wieder zu tun.
Meine große Tochter erzählte mir auch, dass mein Mann im Auto ihr Bein gestreichelt und gekitzelt hat. Mein Mann sagte dann, dass er das nicht mit Absicht gemacht habe.
Ich beobachte, dass er entweder meine Töchter beleidigt und beschimpft oder sich auf ihre Kosten einen Spaß erlaubt. Mein Mann redet mit den Mädchen nicht ernsthaft. Wir finden das alle merkwürdig. Meine Töchter beschweren sich immer über ihn. Er ist aber auch hilfsbereit und schenkt seinen Töchtern viel Aufmerksamkeit. Er sagt immer, dass er sich kein Leben ohne uns vorstellen könne.
Ist das jetzt ein schleichender Prozess, oder erkenne ich einfach nicht, was in ihm vorgeht?
Noch etwas: Auf mich hat er sexuell nicht viel Lust, er sagt, Sex ist ihm nicht so wichtig. Er geht auch auf meine Gefühle nicht ein. Aber er küsst mich ständig und sagt mir, dass er mich liebt. Das ist schon alles komisch.
Ich bitte um eine Rückmeldung.
Mit freundlichen Grüßen
Alicia T.
Liebe Alicia T.,
ich kann mir gut vorstellen, dass Sie sehr beunruhigt sind von dem, was zwischen Ihrem Mann und Ihren Töchtern passiert, und das ist auch sehr gut und wichtig, dass Sie da genauer hinschauen!
Die Situation ist natürlich für die ganze Familie belastend. Ihre Töchter scheinen sich offensichtlich in der Nähe Ihres Mannes nicht wohlzufühlen, er scheint ihre Grenzen zu überschreiten. Und das sowohl körperlich als auch psychisch, wenn er sie dauernd beschimpft und sie beleidigt! Auch Beschimpfungen sind eine Form von Gewalt und haben sehr schädliche Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich auch beunruhigt bin, denn ich frage mich, ob Ihre Töchter Ihnen bereits alles erzählt haben, was passiert ist oder ob Sie bislang nur die Spitze des Eisbergs sehen.
Ihre Töchter befinden sich wahrscheinlich in einem zerreißenden inneren Konflikt, denn einerseits fühlen sie sich mit ihrem Stiefvater offensichtlich nicht wohl. Womöglich ekeln Sie sich vor seinen Berührungen (den Penis des Stiefvaters im Rücken zu spüren ist auch eine sehr unpassende und unschöne Erfahrung!!!).
Das Zuhause und die Familie sollte immer ein sicherer Ort sein, und Mädchen in der Pubertät sollten sich dort unbefangen bewegen können, wie auch immer gekleidet, ohne dass Sie das Gefühl haben müssten, dass Ihr Stiefvater sie anders anschaut als seine Stieftöchter und damit Schutzbefohlenen. Wahrscheinlich schwingen hier unpassende Gefühle des Begehrens bei ihm mit, die Ihre Töchter spüren und die ihnen Beklemmungen und Unwohlsein verursachen, und das in ihrem eigenen Zuhause. Das ist eine sehr belastende Situation!
Und es geht noch einen Schritt weiter: Stellen wir uns einmal vor, dass wir hier nur die Spitze des Eisbergs sehen und es weitere und gravierendere Übergriffe gegeben hat, möglicherweise sogar sexuellen Missbrauch. Wäre das der Fall, dann stehen Ihre Töchter gewaltig unter Druck. Denn sie wissen, dass entweder die Familie zerstört wird, wenn sie erzählen, was passiert ist und Sie als Mutter ihnen glauben. Ihre Töchter fühlen sich wahrscheinlich verantwortlich dafür, dass dann die Familie zerstört wäre, Sie den Mann verlieren, die kleine Schwester ohne Vater aufwachsen muss und der Stiefvater womöglich ins Gefängnis muss. Das ist ein entsetzlicher Konflikt, unter dem viele betroffene Mädchen stehen! Und diese Gewissenskonflikte haben in der Regel immer die Opfer zu tragen und nicht die Täter, die das alles erst verursachen.
Und wenn Sie den Mädchen nicht glauben würden, wäre das auch dramatisch. Das Vertrauen wäre zerstört, es würde trotzdem viel Streit und Zerwürfnis geben, und wahrscheinlich wäre der Stiefvater sehr wütend über die Anschuldigungen. Und wahrscheinlich wäre das Zusammenleben danach erst recht die Hölle auf Erden.
Natürlich ist überhaupt nicht klar, was passiert ist, und deshalb wäre es das Wichtigste, dass Sie in Ruhe mit Ihren Töchtern sprechen und fragen, wie sie sich gegenüber dem Stiefvater fühlen und ob sie Ihnen bereits alles erzählt haben, das passiert ist. Es wäre wichtig, dass Sie Ihren Töchtern gegenüber eine klare Haltung beziehen und sagen, dass es nicht in Ordnung war, was er bisher gemacht hat. (Das Bein streicheln, ungefragt von hinten umarmen, sodass man seinen Penis spüren kann.)
Ganz wichtig wäre, dass Sie sich vorher fragen, was Sie machen würden, wenn doch mehr passiert wäre: Würden Sie sich von Ihrem Mann trennen und Ihre Töchter beschützen? Oder eher nicht?
Und achten Sie auf Veränderungen Ihrer Töchter wie z.B. Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Leistungsabfall, Rückzugstendenzen oder Hauterkrankungen. Diese können natürlich auch andere Ursachen haben, aber können auch ein Anzeichen von sexuellem Missbrauch sein.
Wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihre Töchter Ihnen etwas verschweigen, sollten Sie eine Erziehungsberatungsstelle aufsuchen oder das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch (0800 – 22 55 530) anrufen.
In Therapien wird oft über sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie gesprochen, und dabei fällt ein Muster auf: Der Missbrauch vom Vater, Stiefvater, Großvater etc. kann nur geschehen, wenn die Mutter wegschaut und das Vertrauen der Kinder zu ihr beschädigt ist. Wenn die Mutter sich aktiv gegen sexuellen Missbrauch oder gegen Übergriffe positioniert und den Kindern von früh auf erzählt, was für Berührungen in Ordnung sind und welche nicht,, dann können die Kinder die Situation besser einordnen. In dem Rahmen der Aufklärung und Prävention wäre es für Kinder wichtig, dass die Mutter ihnen sagt, dass niemals die Kinder an Übergriffen schuld sind, und dass sie, die Mutter, immer zu den Kindern halten würde, wenn so etwas passiert, egal, wer der Täter ist. Missbrauch findet am häufigsten in Familien oder von Bekannten (Lehrer, Pfarrer, Nachbar) statt!
Zum Beispiel gibt es dieses Buch für die Prävention von sexuellem Missbrauch bei Kindern im Alter von 6-12 Jahren:
„Ist das okay? Ein Kinderfachbuch zur Prävention von sexualisierter Gewalt“ von Agata Lavoyer und Anna-Lina Balke.
Ich vermute, dass Ihre Mädchen gerade verwirrt sind und nicht wissen, was sie machen sollen. Sie fühlen sich mit dem Stiefvater nicht wohl, und die Frage ist, ob es „nur“ Konflikte von pubertierenden Kindern mit einem (Stief)-Elternteil sind oder noch etwas ganz anderes dahinter steckt. Das Allerwichtigste ist, dass die Mädchen sich zu Hause wohlfühlen und dass sie sicher sind! Auch die verbalen Übergriffe wie Beleidigungen und Beschimpfungen sind ein Anlass für eine Erziehungsberatung oder Familientherapie.
Falls sich herausstellen sollte, dass Ihr Mann die Mädchen sexuell missbraucht hat, sollten Sie auch darüber nachdenken, die kleine Tochter zu beobachten und zu fragen, wie sie sich mit ihrem Vater fühlt. Auch das könnte im Rahmen einer Beratung besprochen werden.
Eine wichtige Information würde ich Ihnen gerne noch geben: Sobald sexueller Missbrauch an Minderjährigen der Polizei gemeldet wird, ist die Polizei bzw. Staatsanwaltschaft verpflichtet zu ermitteln und ein Strafverfahren einzuleiten. Das Kind oder die Eltern haben nicht mehr die Möglichkeit, den Strafprozess zu stoppen, weil sie nicht selbst Kläger sind, sondern der Staat den Missbrauch gegen eine Minderjährige anklagt und in diesem Fall Zeuge oder Zeugin der Straftat ist.
Das ist vielen Familien nicht bewusst.
Ich kann gut verstehen, dass die Situation auch für Sie sehr bedrohlich ist, aber es ist ganz wichtig, dass Sie aktiv werden. Suchen Sie das Gespräch mit Ihren Töchtern und versuchen Sie herauszufinden, wie die Mädchen sich fühlen und ob Sie alles wissen, das passiert ist. Sind die Mädchen Ihnen gegenüber ehrlich und offen? Übrigens sollte Ihr Mann sich in erster Linie bei den Mädchen für die unangemessenen Berührungen entschuldigen und nicht bei Ihnen – auch das würde Respekt zeigen.
Geben Sie alles dafür, dass Ihre Töchter sicher sind und nicht in ihrer eigenen Schutzzone unangemessen begehrlich angeschaut, belästigt, bedrängt oder möglicherweise missbraucht werden.
Herzliche Grüße und viel Mut und Entschlusskraft für Sie
Julia Peirano
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