Einen Sommer lang glaubten wir, Schwarz-Rot-Gold-Begeisterung gebe es auch in harmlos. Diesen Fehler sollten wir bei der Heim-EM nicht wiederholen, findet stern-Redakteurin Thembi Wolf.
Es gab mal eine gute Faustregel, ich lernte sie als nicht weißes, deutsches Kind in den 90er-Jahren: Deutschlandflaggen bedeuten Ärger. Eine Deutschlandflagge im Fenster hieß: hier lieber keinen Klingelstreich machen. Eine Deutschlandfahne am Autospiegel: sicherheitshalber erst danach die Kreuzung überqueren. Deutschlandpulli und Schriftzug in Fraktur: schnurstracks Straßenseite wechseln.
Wer im zivilen Alltag deutschen Patriotismus mit sich herumschleppte, war zumindest nicht ganz sauber und im schlimmsten Fall ein Nazi. Schwierig wurde das mit der Faustregel 2006, als sich die Bundesrepublik in ein schwarz-rot-goldenes Tretminenfeld verwandelte. Aus Deutschland wurde „Schland“, und sogar die netten Nachbarn rüsteten sich im Ein-Euro-Shop mit Fanartikeln aus. Die Welt war zu Gast, wir waren alle Freunde, und Patriotismus in soft war plötzlich okay.
Schon damals gab es Miesepeter, die den harmlosen Schlandismus skeptisch sahen. Erinnern Sie sich an die Debatte über No-go-Areas? Ein kleiner Berliner Verband namens Afrika-Rat landete damit über Nacht in den Schlagzeilen. Der Vorstand hatte sich angeschickt, eine Liste mit Orten zusammenzustellen, die für nicht weiße WM-Gäste gefährlich sein könnten: Kieze, Kneipen und ganze Städte, Angstzonen in Berlin und Brandenburg. Ähnlich formulierte es der ehemalige rot-grüne Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye damals in einem Radiointerview. Auf die Frage, was er Fußballtouristen zum Beispiel aus Togo raten würde, sagte er: „Ich glaube, es gibt kleine und mittlere Städte in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem raten würde, der eine andere Hautfarbe hat, hinzugehen. Er würde sie möglicherweise lebend nicht wieder verlassen.“ Das kam nicht gut an. „Unglaubliche Entgleisung!“ und „Heye von allen guten Geistern verlassen!“, hieß es aus SPD- und CDU-Kreisen.
Den harmlosen Schlandstolz gab es nie
Heye sollte recht behalten: Im Fußballsommer stieg die rechtsextreme Gewalt. So zackig wie noch nie zuvor, um 20 Prozent von Januar bis August 2006, zählte das Innenministerium. Später befragten Forscher der Universität Gießen Fans, die zur EM 2016 sogenannte fußballpatriotische Handlungen vornahmen. Also einen DFB-Schal umlegten, im Autokorso mitfuhren oder eine Flagge aufhängten. Heraus kam, dass Stolz auf die Leistungen und Erfolge deutscher Sportler mit Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit korreliert. Und dass sportlich-patriotische Bindungen an die Nation im Schlepptau immer nationalistische Ressentiments mit sich führen. Das Träumchen vom toleranten Patriotismus nannte der Soziologe Wilhelm Heitmeyer schon 2006 „ein Stück Volksverdummung“.
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Den harmlosen Schlandstolz, von dem jetzt alle schwärmen, gab es nie. Ich erinnere mich daran, dass ich vom Public Viewing lieber im Zickzack um die Fußballkneipen herum nach Hause ging – wer weiß, wie stolz sie im Gasthof „Zum Vaterland“ auf ihr 1 : 0 gegen Polen sind. Das Sommermärchen war für viele nicht weiße Menschen ein Sommeralbtraum. Das Flaggenmeer war der Auftakt für einen neuen Nationalismus, der sich während der Flüchtlingskrise noch verstärkte. Auf Stolz folgten das Volk und dann das Abendland, auf Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ folgten Pegida und die AfD. 2023 wurden fast 29 000 rechtsextrem motivierte Straftaten verzeichnet. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein. Ich habe jedenfalls noch kein Hakenkreuz und kein N-Wort angezeigt. Und wenn sie in der Kneipe nach dem Public Viewing „Deutschland den Deutschen“ anstimmen, werde ich mir sicher keine Namen notieren und den Staatsschutz alarmieren, sondern bin in drei Sätzen an der Tür.
Dabei bin ich Deutsche. So wie Youssoufa Moukoko, der mit zwölf Jahren schon für Borussia Dortmund spielte. Vergangenes Jahr, bei der U21-Europameisterschaft, verschoss er einen Elfmeter. Vermutlich ahnte er in dem Moment schon, welche Emojis danach unter seinen Instagram-Posts eintrudeln würden. „Wenn wir gewinnen, sind wir alle Deutsche, und wenn wir verlieren, kommen diese Affenkommentare“, sagte er.
Deutschland ist noch nicht bereit für Patriotismus
Der niedersächsische AfD-Abgeordnete Stephan Bothe fragte neulich seine Landesregierung, ob man während der EM nicht Fähnchen an Dienstfahrzeugen der Polizei anbringen könne. Immerhin seien Regenbogen-Flaggen ebenfalls erlaubt. Die Antwort war Nein, die Begründung etwas schwammig. Ich kann seinen Unmut verstehen: Es ist unfair, dass man als Deutsche seine Flagge nicht einfach unbedarft in die Welt hängen kann. So wie die Dänen! Dort wird zum Geburtstag die Wohnung mit Flaggen geschmückt. Das Herz der Dänen schlägt rot-weiß. Das klingt ganz anders als: Mein Herz schlägt schwarz-rot-gold. Deutschland ist noch nicht bereit für Patriotismus. Schuld ist auch der 73-Jährige aus Buchloe im Ostallgäu, der 2021 nach einem EM-Spiel zwei Kinder trat und mit einer nassen Badehose auf sie einschlug. Einer der Jungen hatte zu seinem Freund gesagt, er finde es schade, dass Deutschland gewonnen habe, die Portugiesen hätten ihm besser gefallen. Solange zwei Kinder nicht ungefährdet mit portugiesischer Fahne durch Buchloe laufen können, sollten die Deutschlandfahnen im Schrank bleiben.
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Wenn Sie es trotzdem nicht lassen können, hängen Sie vielleicht eine Regenbogenflagge dazu. Und nehmen Sie es mir nicht übel: Ich bin derweil in dieser Kneipe in Berlin-Neukölln, in der sie jeden eingesammelten Deutschlandwimpel gegen einen Schnaps tauschen. Und drücke heimlich die Daumen fürs Vorrunden-Aus.