Wer hilfsbedürftige Eltern in der Ferne hat, steht vor vielen Herausforderungen. Pflege-Expertin Susanne Karner erklärt, was gegen das schlechte Gewissen hilft.
Sie beraten Menschen, die sich um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmern – aber weit weg wohnen. Was lässt sich aus der Ferne organisieren?
Vieles. Man kann zum Beispiel den Pflegegrad oder Pflegeleistungen beantragen, online oder telefonisch die Bankgeschäfte erledigen, Briefe beantworten, und sogar den Einkauf kann man durch Onlinehändler übernehmen. Es gibt in dieser Situation auch einiges zu besprechen: mit den eigenen Eltern, mit anderen Familienmitgliedern, mit dem Pflegedienst oder anderen involvierten Diensten. Auch das lässt sich theoretisch alles über weite Distanzen klären, weil es Telefon, Mails, Messenger-Nachrichten, Videocalls und andere Kommunikationskanäle gibt. Aber obwohl technisch heute vieles möglich ist, ist es sehr herausfordernd, wenn man weit weg wohnt, also nicht mal eben vorbeischauen und gucken kann, ob alles in Ordnung ist.
Sie haben eben erwähnt, dass es viel zu besprechen gibt. Wie lässt sich die Kommunikation zwischen Angehörigen der Pflegebedürftigen und Pflegekräften am besten organisieren?
Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, sich als Angehöriger zu einem persönlichen Gespräch zu treffen, bestenfalls vor Ort persönlich. Wenn das nicht geht, dann telefonisch oder per Videocall. So ein persönliches Kennenlernen schafft Vertrauen. Man sollte dabei über die Erwartungshaltung beider Seiten und den konkreten Auftrag sprechen. Außerdem sollte eindeutig vereinbart werden, wie oft und mit wem kommuniziert wird – und auch, wer im Notfall kontaktiert wird. Schön wäre es, wenn beide Seiten wertschätzend miteinander kommunizieren. Das gilt natürlich nicht nur für den Austausch mit dem Pflegedienst, sondern auch für die Kommunikation mit anderen unterstützenden Diensten.
Susanne Karner ist Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin und seit rund 30 Jahren in verschiedenen Bereichen der Pflege tätig. Heute arbeitet sie als Coachin und Mentorin für Menschen, die ihre pflegebedürftigen Eltern aus der Ferne unterstützen
© Tanja Kibogo
Welche meinen Sie?
Neben den Pflegediensten sind das zum Beispiel Therapeutinnen und Therapeuten – etwa im Rahmen einer Physiotherapie –, Sanitätshäuser, Apotheken, die Sozialdienste der Kliniken oder auch ehrenamtliche und karitative Unterstützungsangebote.
Wenn man nicht vor Ort wohnt, ist es sicher nicht einfach, die richtigen Hilfsangebote zu finden.
Das stimmt. Deshalb rate ich den Angehörigen, sich an die Pflegestützpunkte zu wenden, die beim betroffenen Elternteil vor Ort sind. Hier kann man sich kostenlos beraten lassen. Sie kennen sich mit den regionalen Gegebenheiten und Möglichkeiten am besten aus.
Es gibt mittlerweile auch technische Hilfsmittel, die zum Einsatz kommen, wenn hilfs- oder pflegebedürftige Menschen allein wohnen. Was halten Sie davon?
Die halte ich für sehr sinnvoll, weil sie die Selbstständigkeit im eigenen Zuhause ermöglichen. Für Angehörige kann es sehr entlastend sein, wenn sie wissen, dass durch diese Technik im Notfall schnelle Hilfe organisiert wird – und sie darüber informiert werden. Es gibt zum Beispiel sogenannte assistive Technologien, die mit Sensoren wie Lichtschranken arbeiten und bei sturzgefährdeten Menschen zum Einsatz kommen. Diese können so eingestellt werden, dass man als Angehöriger über eine App informiert wird, wenn die betroffene Person gestürzt ist und von allein nicht aufstehen kann. Bei den Hausnotrufsystemen tragen die Betroffenen einen Funksender um den Hals oder als Armband und können im Notfall mit einem Knopfdruck die zuständige Einrichtung kontaktieren, zum Beispiel vom Arbeiter-Samariterbund oder den Johannitern. Je nach Situation alarmieren diese dann die Notarztzentrale oder den Rettungsdienst.
Was sind die größten Herausforderungen für Menschen, die sich aus der Ferne um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmern wollen?
Viele Angehörige plagt vor allem Gefühl, dass sie aufgrund der Mehrfachbelastung nichts und niemandem gerecht werden: nicht ihren Eltern, nicht ihrem Job und auch nicht ihrer eigenen Familie beziehungsweise ihrem eigenen Leben. Auf Dauer führt das zu viel Stress – und nicht selten zu einem Gefühl der Überforderung. Schuld daran sind oft eigene Ansprüche. Viele Betroffene haben sehr hohe Erwartungen an sich selbst und entwickeln ein großes Schuldgefühl, wenn sie diese nicht erfüllen können. Und auch Erwartungen seitens der Eltern („Du bist so selten da!“) oder anderer Familienangehöriger („Ich muss mich um alles kümmern. Ich bin immer vor Ort – und du?!“) spielen eine Rolle.
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Was hilft gegen das schlechte Gewissen, wenn man weniger helfen kann oder möchte, als andere es erwarten?
Da hilft nur Klarheit. Man sollte sich ehrlich damit auseinandersetzen, wofür man in Bezug auf die Pflege der Eltern zur Verfügung stehen will und kann. Das zu erkennen ist nicht immer einfach, denn oftmals stecken Betroffene in einem Dilemma, weil verschiedene innere Anteile miteinander in Konflikt stehen – zum Beispiel steht der fürsorgliche Anteil im Widerspruch zum freiheitsliebenden Anteil. Manchmal spielen auch eigene Ängste in Bezug auf das Älterwerden, Krankheiten und Tod eine Rolle. Es lohnt sich, hier genau hinzuschauen und die eigenen Grenzen gegenüber den Eltern oder Familienmitgliedern klar und zugleich liebevoll zu äußern.
Und umgekehrt: Was raten Sie Menschen, die das Gefühl haben, alles würde an ihnen hängen bleiben, weil sich Geschwister oder andere Verwandte nicht kümmern?
Auch hier braucht es wieder Klarheit. Wenn ich weiß, wofür ich zur Verfügung stehe und wofür nicht, kann ich das klar kommunizieren. Ich empfehle meinen Kunden und Kundinnen gern, dass sie einen runden Tisch mit den anderen Beteiligten einberufen – in Präsenz oder in einem Video-Meeting –, um darüber zu sprechen, wer wann welche Aufgaben in welchem Umfang übernehmen kann.
Sie haben eben die Mehrfachbelastung angesprochen, mit der viele Angehörige kämpfen. Was können Betroffene tun, die sich in dieser Situation total überfordert fühlen?
Sie sollten sich unbedingt Hilfe holen. Hier ist es sinnvoll, genau zu schauen, was wirklich Entlastung bringt. Braucht man eher eine organisatorische Entlastung? Oder eine emotionale Entlastung? Oder beides? Wer Hilfe in Bezug auf organisatorische Themen benötigt, sollte sich an die bereits erwähnten Pflegestützpunkte wenden. Diese sind eine Einrichtung der Kranken- und Pflegekassen, die Betroffene und ihre Angehörigen unter anderem bei der Suche nach Pflegediensten, Pflegeheimen oder anderen regionalen Hilfsangeboten unterstützen. Sie informieren auch über die Finanzierung der Pflegeleistungen und unterstützen bei der Antragstellung von Pflegehilfsmitteln – dieses Thema ist sehr komplex und führt nicht selten dazu, dass Angehörige sich überfordert fühlen. Wer emotionale Unterstützung benötigt, sollte sich Menschen anvertrauen, die ein offenes Ohr haben, zuhören können und ermutigen. Auch die Gespräche in Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige können entlastend sein. Wer sich sehr belastet fühlt, sollte professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Pflegestützpunkte
Auf der Website des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) können Sie nach Angeboten in der Nähe suchen.