Haben ältere Geschwister das schwerere Los? Nach dem Tod seines großen Bruders fragte sich der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, wie es sein muss, der Erstgeborene zu sein.
Plötzlich großer Bruder oder große Schwester zu sein, ist für jedes Kind ein einschneidendes Erlebnis. Aber haben Erstgeborene es im Leben generell schwerer als ihre Geschwister? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Autor und Psychologe Wolfgang Schmidbauer in seinem sehr persönlichen Buch „Die Erstgeborenen“. Wieso es auch ein Versuch ist, sich mit seinem eigenen Bruder zu versöhnen, erzählt er hier.
Wie kamen Sie als zweites Kind auf die Idee, ein Buch über Erstgeborene zu schreiben?
Auslöser dafür war der Verlust meines großen Bruders. In unserer Kindheit hatten wir eine sehr enge Verbindung zueinander. Auch, weil unser Vater im Krieg gefallen war. Als Erwachsener habe ich nur wenig Kontakt zu meinem Bruder gehabt. Er hat sich von mir distanziert. Wir haben nur sachliche Dinge zusammen geregelt, zuletzt, als unsere Mutter verstorben war, das Erbe. Und dann ist er plötzlich selbst verstorben. Es gibt in der Psychoanalyse die These, dass man sich mit jemandem, den man verloren hat, identifiziert, um den Verlust auszugleichen. So ist es mir ergangen. Ich habe mich viel mit meinem Bruder und seinem Leben beschäftigt.
Was haben Sie herausgefunden?
Ich habe Fotoalben gefunden, die ich bisher nicht kannte. Beim Durchschauen ist mir klar geworden, dass mein Bruder sich dramatisch verändert hat, als ich geboren wurde. Zuerst war er ein fröhliches Kind mit blonden Locken, später hat er sehr ernst in die Kamera geschaut. Aus „Schön, ist es auf der Welt zu sein“ wurde „Es gibt eine Aufgabe und ich muss Verantwortung übernehmen“. Und dieses Erleben hat sich dann für mich mit vielen Geschichten von Erstgeborenen verbunden, die ich zu unterschiedlichen Zeiten bei mir in der Psychoanalyse hatte. Ich hatte das Gefühl, dass viele von ihnen ernster sind, weil viel Kindliches nicht gelebt wurde.
Sie schreiben, dass Sie was Ihren Bruder angeht „unschuldig waren und doch der Täter“ – was genau meinen Sie damit?
Ich habe meinem Bruder dieses paradiesische Leben, in dem die gesamte Aufmerksamkeit unserer Eltern ihm galt, genommen. Ich konnte natürlich nichts dafür, ich hatte ja sozusagen nicht darum gebeten, gezeugt zu werden. Ich denke, dass Geschwisterbeziehungen immer auch eine tragische Komponente haben. Der Erstgeborene erlebt plötzlich einen großen Druck, er identifiziert sich stark mit den Werten der Erwachsenen und eignet sich Selbstkontrolle und Disziplin an. Er soll „groß“ und vernünftig sein. Häufig hat er Angst, für kindlich und klein gehalten zu werden. Der Zweitgeborene kennt diese Ängste nicht.
Ihr Bruder Ernst, mit dem Sie als Kind eng verbunden waren, distanzierte sich als Erwachsener von Ihnen. Von Ihrer Mutter haben Sie erfahren, dass er sie einen „Blender“ nannte. Woher kam diese Ablehnung?
Ich denke, dass unsere Geschwisterkonstellation dabei eine große Rolle spielte. Vor allem wenn Geschwister dicht aufeinander folgen – zwei Jahre waren bei uns der Unterschied – und dasselbe Geschlecht haben, kann es passieren, dass der große Bruder oder die große Schwester das Gefühl hat, die kleinen Geschwister würden sich manipulativ in den Vordergrund drängen. Zum Beispiel, indem sie ein Spielzeug wegnehmen. Wenn das Erstgeborene dann sagt: „Das ist meins, gib es mir zurück“, fangen sie an zu weinen. Und dann kommt der Vater oder die Mutter und sagt: „Sei doch nicht so egoistisch, Du hast doch gar nicht damit gespielt“. Das ist für die Großen ärgerlich und sie finden das heimtückisch von den Kleinen. Bei meinem Bruder und mir kam glaube ich noch hinzu, dass ich insgesamt eine engere Beziehung zu unserer Mutter herstellen konnte, weil wir viele Interessen geteilt haben. Ich denke, dass ihn das alles zu seinem herben Urteil veranlasst hat.
Die Geschwister Ernst (li.) und Wolfgang (re.) Schmidbauer mit ihrer Mutter Elisabeth
© privat
In Ihrem Buch mischen sich persönliche Erlebnisse mit Anekdoten aus Ihrem Berufsalltag als Psychologe. Sind die Ausführungen möglicherweise der Versuch, sich rückwirkend mit Ihrem Bruder zu versöhnen?
Ja, ich denke schon. Indem ich versuche, zu verstehen, warum er sich von mir zurückgezogen hat, ist das ja auch eine Versöhnung mit diesem Geschwister-Schicksal. Wobei ich denke: Es ist auch sehr viel Konstruktives geblieben, weil wir den Kontakt zueinander nie komplett abgebrochen haben.
Bisher heißt es häufig, dass das Sandwichkind, also das Kind in der Mitte, angeblich die schwierigste Rolle in einer Familie einnimmt. Sind stattdessen die Erstgeborenen besonders gebeutelt?
Jede Geschwisterrolle hat ihre Stress-Faktoren. Aber daraus wachsen jeweils auch Bewältigungsmechanismen. Die Erstgeborenen bekommen glaube ich die meisten Spannungen ab. Das bedeutet aber nicht, dass sie es grundsätzlich schwerer haben. Man darf nicht vergessen, dass sie in den ersten Jahren eine sehr intensive Zuwendung der Eltern erfahren. Das Zweitgeborene kommt in eine Familie rein, in der schon ein Kind ist. Es hat ein Modell, an dem es sich orientieren kann. Also haben das zweite Kind und jedes weitere Kind es einerseits leichter – aber sie bekommen eben auch nie die volle Aufmerksamkeit beider Eltern, die der Erstgeborene erfahren hat.
STERN PAID Ein Brief an …meine Schwester 16.23
Über Erstgeborene liest man auch häufig, dass sie intelligenter und erfolgreicher sind. Man verbindet oft positive Eigenschaften mit ihnen.
Das liegt zum einen an der bereits erwähnten intensiven Zuwendung der Eltern am Anfang ihres Lebens. Hinzu kommt: Wenn die Familie nach dem zweiten Kind Konflikte bekommt und die Eltern sich nicht mehr so gut verstehen, sind die Erstgeborenen die einzigen, die sich noch daran erinnern können, dass die Eltern sich einmal gut verstanden haben. Das denke ich macht auch einen Unterschied und trägt dazu bei, dass Erstgeborene gut ausgerüstet sind. Und auch die Verantwortung, die sie später für ihre Geschwister empfinden, macht sie stark. Wenn sie diese positiven Eigenschaften aufrechterhalten können, dann können sehr starke Persönlichkeiten aus ihnen werden.
Wäre es für einen Erstgeborenen Ihrer Ansicht nach nicht noch viel schwieriger, als Einzelkind aufzuwachsen?
Ja. Ich würde sagen, dass ich das nach allem, was ich bisher an klinischen Eindrücken gesammelt habe, in diesem Spruch zusammenfassen kann: „Geschwister sind schrecklich – aber keine zu haben ist noch schlimmer“. Denn ein Einzelkind ist ständig von Erwachsenen umgeben und hat weniger Erfahrungen mit Rivalität, Aggression, Streit und Versöhnung. Deshalb sind Einzelkinder nach meinem Erleben oft sehr gewinnend – aber es fällt ihnen häufig schwerer, Beziehungen aufrecht zu erhalten, wenn es Konflikte gibt.
Wolfgang Schmidbauer: „Die Erstgeborenen“, Bonifatius, 192 S., 18 Euro.
Was können Eltern tun, um es Ihrem Erstgeborenen leichter zu machen, mit ihrem oder ihren Geschwisterkindern klarzukommen?
Ich glaube nicht, dass man das mit guten Vorsätzen regulieren kann. Bei einem geringen Altersabstand zwischen zwei Kindern steigen häufig die Belastungen. Mit welchem Abstand Kinder aufeinander folgen, können Eltern aber natürlich schwer planen. Deshalb kann man letztlich nur auf den Zustand der Kinder schauen und versuchen, ihnen Halt zu geben und das Prinzip der Verlässlichkeit und Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass jedes Kind, egal ob Erstgeborener, Sandwichkind oder Letztgeborener häufig der Überzeugung ist: „Das Lieblingskind sind immer die anderen“. Wie kommen Geschwister zu dieser Überzeugung?
Ich denke, das liegt nahe. Es gibt ja dieses uralte Sprichwort „Das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite des Zauns“. Der Mensch orientiert sich daran, was die anderen kriegen und denkt schnell, er bekomme weniger.
Wie können Eltern erreichen, dass alle sich gleich geliebt fühlen – ist das überhaupt möglich?
Es gibt diese ganz einfache Regel, mein Bruder und ich haben sie immer bestens angewendet, wenn etwas gerecht geteilt werden sollte: Der eine teilt, der andere wählt aus. Das hat bei uns immer wunderbar geklappt. Denn das ist zwangsläufig gerecht. Wenn man solche Prinzipien aufrechterhält, akzeptiert man den Egoismus und die Rivalität unter Geschwistern und versucht, konstruktiv damit umzugehen.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Erstgeborenen in der Therapie gemacht, was ist Ihnen an diesen Menschen besonders aufgefallen?
Man kann natürlich nie sagen, dass alle so sind. Aber ich habe Erstgeborene häufig als pflichtbewusst, ernst, überlegt, kontrolliert und perfektionistisch erlebt.
Sie schreiben, dass Erstgeborene es häufig nicht aushalten können, wenn ihnen jemand etwas nachmacht …
Ja, das fand ich sehr interessant. Ich habe bei Erstgeborenen häufig beobachtet, dass sie sich darüber wirklich empören können. Wenn die beste Freundin sagt: „Was für eine schicke Bluse, wo hast Du die denn her?“ Und dann beim nächsten Treffen in genau derselben Bluse auftaucht, dass sie sich darüber richtig erbittern können. Ich denke schon, dass das an der Geschwisterkonstellation liegt, in der sie jeweils aufgewachsen sind. Als Zweitgeborener hat man ja überhaupt keine Bedenken, alles nachzumachen, was einem irgendwie passend erscheint. Mich zum Beispiel würde es eher zufrieden stellen, wenn jemand mich nachmacht.
Inwieweit spielen unsere Geschwisterrollen auch in unseren Liebesbeziehungen eine Rolle?
Eine sehr große. Es ist sehr gut nachgewiesen von dem Psychologen Walter Toman, dass Beziehungen, die Geschwisterbeziehungen spiegeln, eine bessere Chance auf Beständigkeit haben. Kurz gesagt: Wenn eine große Schwester und ein großer Bruder heiraten, ist die Ehe signifikant gefährdeter, als wenn eine große Schwester und ein kleiner Bruder heiraten. Ich denke das ist gut verständlich, denn wenn die Geschwisterrollen so polar sind, dann haben die beiden ja ein Repertoire, mit dem sie sich von Anfang an aufeinander einstellen können. Wenn zwei Erstgeborene aufeinandertreffen, dann ist Rivalität angesagt.
Am Ende Ihres Buches empfehlen Sie, dass es sich lohnen kann, seine Geschwisterbeziehungen zu beleuchten. Was genau kann jeder oder jede von uns tun, wenn er oder sie sich mit diesem Thema intensiver beschäftigen möchte?
Mein Buch lesen natürlich (lacht). Geschwister sind die Menschen, die wir am längsten kennen und mit denen wir die vertrautesten Erinnerungen haben. Wenn man diesen lebendigen Kontakt unter Geschwistern beibehält, dann ist man im Dialog und kann die Lücken in der Erinnerung schließen und das finde ich schon etwas sehr Liebenswertes. Ich finde es vor allem schade, dass ich als Erwachsener mit meinem Bruder so wenig Kontakt hatte, um mich mit ihm zum Beispiel über Kindheitserinnerungen auszutauschen.