Kindermedizin in der Krise: „Völliger Kollaps“: Führende Mediziner fordern Hilfe für Kliniken – sonst geraten Kinder in Lebensgefahr

Kinderkrankenhäusern fehlen Pflegekräfte. Der künftige Intensivmediziner-Präsident Florian Hoffmann und weitere Mediziner dringen auf schnelle Maßnahmen, um die Not zu lindern. Andernfalls drohten fatale Folgen. 

Die Lage ist ernst, so ernst, dass es um Kinderleben geht. Im stern fordern führende deutsche Kindermediziner Sofortmaßnahmen der Politik, um die Notlage der Kinderkliniken hierzulande abzumildern. Der Mangel an Pflegekräften sei inzwischen so groß, dass schwer kranke Kinder nicht mehr angemessen versorgt werden könnten.

„In allen Kinderkliniken herrscht Überlastung“, warnt Florian Hoffmann, der neu gewählte Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) im stern. Hoffmann ist selbst Kinderintensivmediziner an der LMU München. „Die Stationen sind oft überbelegt“, sagt er. „Inzwischen ist das System das gesamte Jahr durchgängig am Limit, nicht mehr nur während der Infektwellen im Winter.“

Die Folgen seien dramatisch. So komme es etwa vor, schildert Hoffmann, „dass die Tumor-OP eines Kindes zum vierten Mal verschoben werden muss. Ein solcher Eingriff darf nicht ewig hinausgezögert werden, der Tumor wächst ja weiter.“

Notfall Kindermedizin

Der stern berichtet aktuell in einem großen Schwerpunkt zur Krise der Kindermedizin. Über Monate recherchierten Reporter unter anderem auf der größten deutschen Kinderintensivstation, der Station 67 der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). 

Der dortige leitende Oberarzt, Michael Sasse, seit 30 Jahren Kinderintensivmediziner, spricht von einer „Katastrophe“. Er und sein Team seien ständig gezwungen zu triagieren. „Wir müssen entscheiden, welches Kind unsere Behandlung am nötigsten hat. Und die anderen können wir dann nicht versorgen. Wenn ich ein Bett habe für drei Patienten, dann muss ich aussuchen, wer in das Bett kommt.“

„Es gibt kein Durchatmen mehr“

Der Direktor der Klinik für Pädiatrische Kardiologie und Pädiatrische Intensivmedizin an der MHH, Philipp Beerbaum, warnt davor, dass unter dem steigenden Druck womöglich weitere Pflegekräfte ihren Beruf aufgeben werden und sich damit die Krise noch verschärfen könnte. „Das verbliebene Personal muss immer schneller, immer härter, immer kränkere Patienten versorgen. Es gibt kein Durchatmen mehr“, sagt er. 

Beerbaum appelliert an die deutsche Gesundheitspolitik: „Wollen wir wirklich Situationen haben, in denen wir unseren Kindern nicht mehr helfen können? Diese Frage muss gestellt werden und die Gesellschaft, die Politik, muss sie beantworten.“

Der stern berichtet auch vom Fall eines schwer am Herzen erkrankten Säuglings, bei dem die Versorgungskette aus Gründen mangelnder Ressourcen nicht funktioniert hat. Das Kind starb im Februar dieses Jahres in einer nordrhein-westfälischen Klinik, nachdem dort die behandelnden Ärzte eine ganze Nacht lang vergeblich ein geeignetes Klinikbett und eine Transportmöglichkeit für das Kind gesucht hatten.

Kindermedizin in der Krise Station 67 Fall Wuppertal

Laut einer aktuellen Divi-Statistik können derzeit nur 60 Prozent der vorhandenen Kinderintensivbetten in Deutschland wirklich genutzt werden, der Rest ist wegen des Pflegemangels gesperrt. Ohnehin ist die Zahl der Betten und Klinikstandorte in der Kindermedizin in den vergangenen Jahren stark gesunken. Derzeit existieren noch 326 Kinderkliniken in Deutschland, sie betreiben etwa 17.500 Betten, ein Drittel weniger als 1996 – die Zahl der zu behandelnden Fälle ist in diesem Zeitraum allerdings konstant geblieben. 

Der Vize-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Jörg Dötsch, der auch Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln ist, fordert im stern dringend Maßnahmen, damit derzeit gesperrte Betten schnell wieder genutzt werden können. „Wir brauchen finanzielle Anreize, damit Pflegekräfte jetzt aus der Rente oder der Berufspause zurück in den Beruf kommen und Teilzeitkräfte ihre Stunden aufstocken. Genauso wäre es sinnvoll, flexible Jahresarbeitszeitkonten einzuführen, damit vor allem in den besonders belastenden Wintermonaten mehr gearbeitet werden kann.“

„Die Kinder sind die Verlierer“

Kindermediziner Dötsch fordert genauso wie sein Divi-Kollege Florian Hoffmann, Geld und Ressourcen in Richtung Kindermedizin umzuschichten. „Es braucht Verständnis dafür, dass jetzt dringend eine Priorisierung der Kinder- und Jugendmedizin notwendig ist“, sagt Dötsch, der selbst Mitglied der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ war. 

Station 67 Kindermedizin in der Krise Titel

Florian Hoffmann warnt vor einem „völligen Kollaps“ des Systems, wenn nicht umgehend umgesteuert werde. Er kritisiert dabei auch den Entwurf der neuen Krankenhausreform, der gerade von der deutschen Bundesregierung verabschiedet wurde. „Ich hatte mir erhofft, dass der Schutz der Kinder mit der neuen Reform an erster Stelle gesetzt wird. Dass der Bundesgesundheitsminister und die Bundesregierung sagen: Passt auf, Kinder haben jetzt mal Vorrang!“ Aber davon sei der Entwurf weit entfernt. 

„Die Kinder sind die Verlierer“, sagt Hoffmann. „Die Medizin der Erwachsenen, mit der man Geld verdienen kann, hat das Geld von den Kindern weggezogen. Wir sollten als Gesellschaft endlich darüber diskutieren, wofür wir unsere begrenzten Ressourcen einsetzen wollen, wo wir Prioritäten setzen.“