Bei Kinder-Antibiotika, bestimmten ADHS-Medikamenten, Schmerzmitteln oder Asthma-Spray stockt der Nachschub. Daten zeigen: Die Engpässe haben oft eine lange Vorgeschichte.
Die „Bekanntmachung nach § 79 Absatz 5 des Arzneimittelgesetzes“ vom 15. Dezember 2023 ist ein gutes Beispiel. Darin stellt das Gesundheitsministerium einen Versorgungsmangel fest, und zwar von „salbutamolhaltigen Arzneimitteln in pulmonaler Darreichungsform“. Gemeint sind Inhalatoren, wie sie beispielsweise von Patientinnen und Patienten mit Asthma oder chronischer Bronchitis verwendet werden.
Salbutamol entspannt die Lungenmuskulatur – bei schweren Atemnotattacken kann so ein Spray ein echter Lebensretter sein. Doch weil die Nachfrage danach weltweit angestiegen ist, sind solche Mittel auch in Deutschland manchmal schwer zu bekommen. Mehrere Hersteller gehen davon aus, dass die Lieferschwierigkeiten bis ins nächste Jahr hinein anhalten werden.
Der Medikamentenmangel in deutschen Apotheken und Arztpraxen geht aber weit über Asthma-Spray hinaus. Rund 500 offene Lieferengpass-Meldungen mit mehr als 850 betroffenen Einzelprodukten listet das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) derzeit auf. Damit liegt die Zahl der betroffenen Medikamente zum Herbstbeginn in etwa auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr. Das kann sich allerdings schnell ändern, schließlich wird die Datenbank täglich aktualisiert. Seit Ende August steigt die Zahl der im Zuge einer Erstmeldung eingetragenen Einzelprodukte bereits an.
Apothekerverband geht von tausenden betroffenen Medikamenten aus
Dabei zeigen die Daten des BfArM nur die Spitze des Eisbergs. „Jede Apotheke hat hunderte von Bestellungen, die nicht erfüllt werden können“, berichtet der Vorsitzende des Apothekerverbands Nordrhein, Thomas Preis. Bei immer mehr Medikamenten sei der Mangel praktisch ein Dauerzustand. „Selbst wenn das Präparat zwischendurch mal bei einem Händler verfügbar ist, kann es in der nächsten Sekunde schon wieder weg sein.“
Insgesamt seien mehrere Tausend Arzneimittel von Lieferengpässen betroffen, schätzt Preis. Viele davon tauchen in der Datenbank des BfArM gar nicht auf – etwa, weil sie nicht als versorgungsrelevant gelten oder weil der Hersteller den Mangel nicht von sich aus meldet. „Kein Hersteller will gerne zugeben, dass er nicht liefern kann“, vermutet Preis.
Die öffentlich verfügbaren Daten geben aber zumindest einen Einblick, wie umfassend und komplex die Probleme auf dem deutschen Arzneimittelmarkt sind. Nahezu täglich ändert sich die Zusammensetzung der Liste. „Dadurch sind immer wieder neue Patientengruppen betroffen“, beobachtet der Apotheker aus Köln.
Ausfallerscheinungen ziehen sich oft monatelang hin
Oftmals halten die Lieferengpässe zudem länger an als gedacht, wie ein Vergleich der Datenbankeinträge zeigt. So scheinen viele Hersteller in ihrer ersten Mitteilung an das BfArM zunächst davon auszugehen, dass sich die Situation schon bald wieder entspannen wird. Zwar gibt die Mehrzahl der Erstmeldungen einen voraussichtlichen Engpass von mindestens drei Monaten bekannt. Doch immerhin fast jede fünfte Erstmeldung setzt die geschätzte Dauer der Lieferprobleme auf unter acht Wochen an.
Im Nachhinein erweist sich diese erste Einschätzung oft als zu optimistisch: Das voraussichtliche Ende der Lieferprobleme wird dann in mehreren Änderungsmitteilungen schrittweise nach hinten verschoben. Bei über 60 Prozent der aktuell registrierten Arzneimittel kommt die Produktion seit mehr als sechs Monaten nicht nach. Gut ein Drittel verzeichnet bereits seit über einem Jahr Lieferschwierigkeiten. Hinzu kommen mehrere Medikamente, bei denen Lieferengpässe bereits mehrfach für beendet erklärt wurden – dicht gefolgt von einer neuen Erstmeldung.
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Hersteller lassen „Brot-und-Butter“-Medizin fallen
Nicht nur Deutschland hat mit wiederkehrenden Problemen in den Lieferketten der Arzneimittelversorgung zu kämpfen. „Viele wichtige Wirkstoffe werden nur von einigen wenigen großen Produktionsstätten in China oder Indien hergestellt“, sagt Preis. „Wenn deren Lieferungen ausfallen, haben wir hier in Europa ein großes Problem.“ Auch fehlendes Verpackungsmaterial führt immer wieder zu Produktionsengpässen, vor allem bei Injektionslösungen, Säften oder Sprays. Zuletzt haben zwei Hersteller in ihrer Meldung an das BfArM auf eine unzureichende Versorgung mit Glasflaschen und Ampullen verwiesen.
Einer der am häufigsten genannten Gründe, warum Pharmafirmen nicht genügend Medikamente bereitstellen können, hängt jedoch mit der Nachfrage zusammen. Diese kann einerseits durch unerwartete Krankheitsausbrüche steigen. Viel öfter aber treten die Mangelerscheinungen in Folge einer Kettenreaktion auf: Wenn ein großer Hersteller beispielsweise aufgrund von Qualitätsproblemen ausfällt, können die Mitbewerber die entstehende Versorgungslücke meist nicht sofort schließen.
Die auf Kinder- und Jugendmedizin spezialisierte Firma Infectopharm etwa berichtet nicht zum ersten Mal von Ausfällen bei Mitbewerbern. Aktuell sieht sich das Unternehmen aus dem hessischen Heppenheim deshalb mit einer stark erhöhten Nachfrage nach Penicillin-Säften konfrontiert. Das Unternehmen rät dazu, gegebenenfalls auf ein höher dosiertes Granulat auszuweichen, das zum Saft angerührt werden kann.
Dominoeffekt betrifft vor allem „Brot- und Butter“-Medizin
Oft ist es nur eine Frage der Zeit, bis es auch bei Alternativprodukten zu Lieferengpässen kommt. Zuletzt konnte das etwa bei hydromorphonhaltigen Schmerzmitteln beobachtet werden, die unter anderem in der Krebstherapie zum Einsatz kommen. Hier setzen sich die Lieferengpässe nun schon seit geraumer Zeit über verschiedene Hersteller und Dosierungen fort.
Solche Dominoeffekte machen sich mehr und mehr bemerkbar. Besonders schwierig sei die Lage ausgerechnet bei bewährten „Brot-und-Butter-Medikamenten“, wie Preis sie nennt: Fiebersäfte für Kinder, Antibiotika und sogenannte Generika, also patentfreie Medikamente. Weil das Geschäft damit immer weniger Gewinn verspricht, steigen mehr und mehr Konzerne aus der Produktion aus und wenden sich lukrativen Geschäftszweigen zu – wie zum Beispiel der Entwicklung von Abnehmspritzen. „Am Ende ist dann kein Geld mehr da, um Fieberzäpfchen für die Kinder herzustellen“, kritisiert Preis. „Ich finde das nicht in Ordnung. Es gibt einen Versorgungsauftrag und sowohl die Pharmaindustrie als auch die Politik sind dafür verantwortlich, dass die Lieferketten stabil bleiben.“
Schon jetzt ist das BfArM bei drohenden Versorgungsengpässen befugt, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Es kann Sondergenehmigungen erlassen und dadurch zusätzliche Arzneiimporte aus dem Ausland ermöglichen. Zeitgleich gehen oft Appelle an die Ärzteschaft und Apotheken raus, die betroffenen Medikamente sparsam auszugeben.
Lauterbachs Arzneimittelreform zeigt nicht die erhoffte Wirkung
Das im Juli 2023 in Kraft getretene „Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln“ (ALBVVG) setzt außerdem auf finanzielle Anreize für die Hersteller, mehr Flexibilität bei der Ausgabe von Medikamenten und größere Vorräte. Von einer spürbaren Verbesserung der Lage könne aber trotz der Arzneimittelreform keine Rede sein, meint der Verbandschef Preis. „Das Gesetz setzt zu milde Werkzeuge ein“, so sein Urteil.
Eine nachhaltige Lösung, die nicht nur die Symptome des Medikamentenmangels bekämpft, müsste hingegen bei den globalen Lieferketten ansetzen. Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach drängt auf ein gemeinsames Vorgehen der EU-Staaten, um die Produktion versorgungskritischer Arzneimittel zurück nach Europa zu holen – ein Plan, der wohl kaum schnell umzusetzen sein wird.
Die gute Nachricht ist: Bislang ziehen die gemeldeten Lieferengpässe nur selten handfeste Versorgungsprobleme nach sich. Tatsächlich bekommen Patientinnen und Patienten oft gar nichts davon mit, wenn ein bestimmtes Medikament nicht sofort verfügbar ist. Ärzteschaft und Apotheken arbeiten im Hintergrund daran, den Mangel auszugleichen. Doch der Unmut wächst: Mehr als zehn Prozent der Arbeitszeit gehe in vielen Apotheken dafür drauf, die Engpässe zu managen, klagt etwa der Apotheken-Spitzenverband ABDA.
Mit etwas Glück findet sich schnell eine Alternative für das fehlende Mittel. Manchmal kann auf andere Wirkstoffe, eine andere Dosierung oder Darreichungsform ausgewichen werden. Und manchmal macht die Not erfinderisch: Wenn das Kinder-Antibiotikum als Saft nicht zu bekommen ist, gibt es immer noch die Möglichkeit, zerstoßene Tabletten in den Baby-Brei zu mischen. Bei den Eltern dürfte so eine Lösung dennoch ein mulmiges Gefühl hinterlassen.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst bei ntv.de