Lange stritten sich Großbritannien und Mauritius um die Chagos-Inseln, ein militärstrategisch wichtiges Archipel im Indischen Ozean. Die Abtretung hilft Labour innenpolitisch.
Es gibt sie, diese einsamen Trauminseln, die kaum ein Abenteurer je betreten hat. Nur wenige schaffen es, die abgeschiedenen Chagos-Inseln im Indischen Ozean zu erreichen. Sie schwärmen von türkisfarbenem Meer, menschenleeren weißen Sandstränden und atemberaubender Flora und Fauna. Lediglich ein paar verwitterte Häuser erinnern an die Zeit vor 1969, als das Chagos-Atoll Heimat von knapp 2000 Menschen war.
Diese Menschen, sie nennen sich „Chagossians“ in Anlehnung an ihre Herkunft, leben heute mit ihren Nachfahren auf Mauritius oder auf den Seychellen. Vor allem aber bevölkern 3500 von ihnen die südenglische Stadt Crawley.
Vertreibung der Chagos-Bewohner war ein „koloniales Verbrechen“
Die Chagossians tauschten ihren Platz an der Sonne nicht freiwillig gegen eine kleine Wohnung im englischen Dauerregen unter der Anflugschneise des Flughafens London Gatwick. Vielmehr wurden sie von den Briten vor 55 Jahren aus dem sprichwörtlichen Paradies vertrieben. Damals nämlich erwirkte die einstige britische Kolonie Mauritius ihre Freiheit von Großbritannien, allerdings mussten die Mauritier den scheidenden Kolonialherren im Gegenzug das 2455 Kilometer entfernte Chagos-Archipel abtreten. Auf das Abkommen folgte die zwangsweise Umsiedlung der gesamten Bevölkerung der 58 Inseln. STERN PAID 24_24 Abschiebung Ruanda 20.00
Diese Vertreibung, von Menschenrechtsorganisationen als „entsetzliches koloniales Verbrechen“ verurteilt, geschah auf Wunsch der USA. Der wichtige Partner der Briten im Kalten Krieg wünschte sich eine Militärbasis im Indischen Ozean, und die isolierten Chagos-Inseln mit ihrer strategischen Schlüsselposition waren der ideale Ort dafür. Auf der Hauptinsel Diego Garcia bauten die Amerikaner gemeinsam mit den Briten hochgeheime Militäranlagen, die bis heute kaum ein Zivilist zu sehen bekam.
Der Streit um die Chagos-Inseln brodelt seit fünf Jahrzehnten
Am Donnerstag nun verkündete die britische Regierung, das Chagos-Archipel gehe wieder in den Besitz von Mauritius über. Die Nachricht, Premier Keir Starmer und Außenminister David Lammy hätten sich auf die Rückgabe der „letzten britischen Kolonie in Afrika“ an den Inselstaat geeinigt, ist weitaus mehr als eine nachrichtliche Fußnote: Der Gebietsstreit um die Inseln brodelte seit Abschluss des kontroversen Deals in den Sechzigern. Lange konnten die Briten die Klagen von Mauritius und den vertriebenen Chagossians ignorieren; schließlich endete das Abkommen mit den Amerikanern zur militärischen Nutzung von Diego Garcia erst 2016. Das war damals noch lange hin. Noch 2010 erklärten die Briten das Archipel vorsorglich zum Meeresschutzgebiet, im Glauben, damit erledigten sich sämtliche Ansprüche der Chagossians auf Rücksiedlung von selbst.
Mit dem Brexit schwand Großbritanniens weltpolitischer Einfluss
Doch schließlich kam 2016, und die Briten stimmten für den Austritt aus der EU. Der von den Brexit-Befürwortern oft beschworene „Wille des Volkes“ machte aus dem wichtigen EU-Mitglied eine wirtschaftlich und weltpolitisch zunehmend isolierte Insel.
Inzwischen interessierte sich auch die UN für den Fall der Chagos-Inseln. 2019 erklärte der Internationale Gerichtshof, die fortgesetzte britische Besetzung der abgelegenen Inselgruppe im Indischen Ozean sei illegal. Das Vereinigte Königreich möge die Inseln „so schnell wie möglich“ an Mauritius zurückgeben, heißt es in dem Gutachten, das die UN-Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit unterstützte. EU-Wahlen Caroline Lucas Interview18h
Die zu jener Zeit regierende Premierministerin Theresa May war damals anderweitig beschäftigt. Sie versuchte gerade, ihren imperfekten Brexit-Deal einem aufmüpfigen Parlament zu verkaufen. Den Beschluss des Internationalen Gerichtshofs zu den Chagos-Inseln werde man einfach ignorieren, entschied das Außenministerium – schließlich handele es sich dabei „nur um eine Empfehlung“. Gleiches traf übrigens auf das Brexit-Referendum zu; die Ironie dieser Tatsache entging den Brexit-Fanatikern offenbar.
Viele Briten wussten nichts von der Existenz der Inseln
Doch die Zeiten, in denen sich die Weltgemeinschaft von der ehemaligen kolonialen Großmacht derart abspeisen ließ, sind vorbei. Der Druck auf das Königreich wuchs, seit 2022 saß es am Verhandlungstisch mit Mauritius und den USA.
Erst die im Juli gewählte Labour-Regierung mit mehr Respekt für internationales Recht schickte sich an, das Problem Chagos pragmatisch zu lösen. Unter Außenminister David Lammy verabschiedeten sich die Briten nun komplett und ohne großes Drama von den Trauminseln. Diego Garcia bleibt allerdings US-Militärbasis, die Amerikaner haben sich direkt mit Mauritius auf einen Pachtvertrag geeinigt.
Der Abtritt des winzigen britischen Territoriums, von dessen Existenz viele Briten diese Woche erstmals erfuhren, ist im Königreich nicht ganz unkontrovers. Besonders laut protestieren nun jene Brexit-Fanatiker, die die Hauptschuld am Autoritätsverlust Großbritanniens auf der Weltbühne tragen. „Unsere amerikanischen Alliierten werden darüber wütend sein!“, echauffierte sich der Rechtspopulist Nigel Farage. Offenbar hatte er das offizielle Statement des Weißen Hauses nicht gelesen – darin steht, die USA hätten die Verhandlungen in den letzten Jahren unterstützt und seien „über das erfolgreiche Ergebnis erfreut“.
Tories wittern Verrat an Gibraltar und den Falklands
Auch die Kandidaten für den Tory-Parteivorsitz konnten der Versuchung nicht widerstehen, die neue Labour-Regierung für den Chagos-Deal mit dem Union Jack zu verprügeln. Es sei „schwach“ von Labour, die Inseln einfach so aufzugeben, erklärte James Cleverly auf X. Er bereute den Tweet sofort. „James Cleverley selbst war es, der als damaliger Außenminister vor zwei Jahren die Verhandlungen angestoßen hat“, erklärte der Chefverhandler Jonathan Powell dem TV-Sender Sky News. Seither muss sich Cleverly die Vorwürfe seiner eigenen Parteigenossen anhören, er habe die Souveränität der Briten im Indischen Ozean verschenkt und potentiell Gibraltar und die Falklands gleich mit.
Was die migrationsbesessenen Tories zusätzlich ärgern dürfte: Starmer und Lammy hoffen, mit der Übergabe des Archipels auch eine gefährliche illegale Einwanderungsroute zu schließen. In den letzten Jahren steuerten zunehmend Tamilen aus Sri Lanka die Inselgruppe an und beantragten auf dem britischen Territorium Asyl. PAID Labour-Konferenz Liverpool 16.55
Und was wird aus den vertriebenen Chagossians? Sie jubeln bestenfalls verhalten. Viele fühlen sich erneut betrogen, denn ihre neuen Herrscher sind nun die Mauritier. Vor deren offenem Rassismus flohen vor mehr als fünf Jahrzehnten viele Inselbewohner ins tolerantere Großbritannien.
Einer Rückkehr ins Paradies steht also noch einiges im Wege.