Eigentlich sollte es für unseren Autoren eine ganz normale Bahnfahrt werden – bis der Zug in Hamburg stoppt. Und plötzlich die Angst mit im Abteil sitzt.
Es soll eine entspannte Fahrt ins lange Feiertagswochenende werden. Ziel ist das Jedermannradrennen „Münsterlandgiro“. Die Anreise, ganz ökologisch geplant von Hamburg-Altona nach Münster, im Fahrradabteil in der Spitze des Zuges. Um 15.20 Uhr fährt der Zug in Hamburg-Altona ein. Er kommt aus Frankfurt. Aber das ist ja völlig ohne Bedeutung – noch.
Um 15.31 Uhr, nur um zwei Minuten verspätet, startet ICE 1915 zu seiner Fahrt nach Frankfurt/Main über Bremen und Köln. In Hamburg-Dammtor und am Hauptbahnhof drängen sich die Menschen auf dem Bahnsteig. Das ist ja am Vorabend eines Feiertages ganz normal. Zügig geht es weiter gen Süden. Harburg ist die letzte Hamburger Station. Der Zug fährt ein, am Gleis stehen noch ein paar weitere Fahrgäste. Alles sieht nach Routine aus.
Der Zug stoppt – und die Grusel-Fantasien bahnen sich ihren Weg
Der Zug stoppt. Dann passiert – nichts. Die Türen bleiben zu. Ratlos drücken die Zustiegswilligen auf den grünen Knöpfen herum. Im ICE 1915 die erste rätselhafte Durchsage: Die Türen müssten geschlossen bleiben. „Machen Sie es sich solange gemütlich.“ Weitere Informationen würden folgen. Bahn-Veteranen haben sofort Erklärungen parat: „Die jagen Schwarzfahrer.“
Minutenlang geschieht nichts. Aus dem Zug ist zu beobachten, wie sich der Bahnsteig plötzlich leert. Vielleicht eine Bombendrohung? Dann patrouillieren bewaffnete Polizisten entlang des ICE. Die Passagiere fangen an zu googeln. Die Bahn meldet bei „X“ lediglich einen Schienenbruch bei Peine. ICE geräumt Hamburg Virus 17.15
Dann die zweite, mysteriöse Durchsage: „Wer die Toiletten benutzt hat, kommt bitte in Wagen 9. Die Toiletten bleiben ab sofort geschlossen.“ Jetzt hat der erste die Meldung der „Bild“ gefunden: „Polizei sperrt Gleise – Virusangst im Hauptbahnhof.“ Bei einem Medizin-Studenten, der aus Ruanda eingereist sei, gebe es den Verdacht auf das Marburg-Virus. Die ersten kramen in ihren Rucksäcken und fördern FFP2-Masken zutage. Sicher ist sicher.
Gegenseitig erzählen wir uns mit gewissem Grusel die Google-Erkenntnisse. Der Marburg-Virus ist noch gefährlicher als Ebola, Sterblichkeitsrate 90 Prozent. Das Zugpersonal, inzwischen auch mit Masken, schreitet durch die Gänge und zählt die Passagiere. Wird schon nach Plätzen in einem Quarantäne-Hotel gesucht?
Verdacht auf Marburg-Virus: Plötzlich sitzt die Angst mit im Abteil
Dann wieder Hoffnung, eine neue Durchsage der leicht gequält klingenden Zugchefin: „Wir können nur sagen, dass es eine behördliche Anordnung ist. Es geht um Hygienemaßnahmen. Mehr weiß ich auch nicht.“ Per Whatsapp wird aus dem ominösen Wagen 9 berichtet: „Wer auf der Toilette war, wird befragt: Haben Sie sich hingesetzt oder im Stehen gepinkelt? Haben sie etwas angefasst?“
Die Klimaanlage surrt. Ob das jetzt wirklich gut ist? Kriecht die Gefahr durch die Lüftungsschlitze? B-Movie-Stimmung macht sich breit. Die ersten Pläne für den Feiertag werden über den Haufen geworfen. Aber auch Galgenhumor tritt auf den Plan: Plötzlich könnte ausgerechnet der viel geächtete Stehpinkler so sein Überleben gesichert haben, wird geflachst. Die Zugchefin wird konkreter: „Wir müssen alle im Zug bleiben, behördliche Anweisung vom Gesundheitsamt.“ STERN GEO Marburg-Virus
Der Bahn ausgeliefert zu sein, ist ja oft schlimm genug. Doch jetzt auch noch einem Amt? Kafka kommt einem in den Sinn. Oder ist das alles nur ein schlechter Traum? Die Zugchefin meldet sich: „Die zuständige Ärztin beim Gesundheitsamt ist nicht erreichbar.“ Und sie fügt an: „Wir sind zum Warten verdammt.“ Die Stunde der ganz großen Wahrheiten im ICE 1915.
Die Toilettenbenutzer kehren aus Wagen 9 zurück. Sie mussten erzählen, was sie in den Toiletten angefasst haben. Das ist in der Bahn immer möglichst wenig – diesmal zum Glück. Doch auch Stehpinkler mussten ihre Daten hinterlassen.
Die Erlösung kommt – und mit ihr der normale Bahnsinn
Der Lautsprecher krächzt. Wir sind bereit für unser Urteil. „Ich habe gute Nachrichten“, flötet unsere Wärterin überraschend: „Wir dürfen weiterfahren!“
Mit 110 Minuten Verspätung und der Hoffnung auf ein Freigetränk geht es jetzt über Bremen gen Münster. Die Zugchefin versichert: „Es besteht keine Infektionsgefahr, die Toiletten werden aufgeschlossen.“ Es habe aber ein bestimmter Sicherheitskatalog abgearbeitet werden müssen.
Aufatmen, Zurücklehnen und schnell die erlösende Nachricht ins Smartphone tippen. Aber dann geht der Lautsprecher schon wieder an: „Aufgrund eines Leichenfundes in Bremen werden wir heute in Rotenburg halten.“
Der ganz normale Bahnsinn hat uns wieder.