Das Thema sexualisierte Gewalt erschüttert nach wie vor die katholische Kirche. Eine wissenschaftliche Studie für das Bistum Osnabrück liefert Zahlen. Aber: Haben sich die Zustände gebessert?
Im katholischen Bistum Osnabrück sind mehr als 400 Menschen seit 1945 Opfer von sexualisierter Gewalt geworden. „Klar ist, dass von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist – die höchste Schätzung liegt beim Zehnfachen dieser Zahl“, sagte der Rechtswissenschaftler Hans Schulte-Nölke bei der Präsentation des Abschlussberichts der Universität Osnabrück zu sexualisierter Gewalt im Bistum Osnabrück.
In dem Zeitraum seien im Bistum rund 3.000 Kleriker eingesetzt worden. Von ihnen zähle ein Anteil von 4,1 Prozent zu den Beschuldigten. Diese Größenordnung entspreche den Befunden in anderen Bistümern in Deutschland und auch im Ausland, sagte Schulte-Nölke. Möglicherweise handele es sich um eine Konstante. Die vorgeworfenen Taten umfassen das gesamte Spektrum sexualisierter Gewalt von Distanzverletzungen bis hin zu schweren Sexualstraftaten.
Die Studie hatte das Bistum Osnabrück in Auftrag gegeben. Es habe aber keinen Einfluss auf die wissenschaftliche Arbeit genommen, sagte die Präsidentin der Universität, Susanne Menzel-Riedl. Vor zwei Jahren wurde der erste Zwischenbericht vorgestellt, der etliche Fehler des Bistums im Umgang mit sexualisierter Gewalt nachwies. In der Folge trat der damalige Bischof, Franz-Josef Bode, zurück.
Lernkurve erkennbar
„Es ist im Bistum Osnabrück eine Lernkurve erkennbar, die nach oben zeigt“, sagte Schulte-Nölke. Allerdings blieben die Leistungen für die Betroffenen noch hinter dem zurück, was staatliche Gerichte in klaren Fällen zusprechen würden, kritisierte er. Das Bistum habe seine Pflichten, Maßnahmen gegen verdächtige Kleriker zu ergreifen, über lange Zeit erheblich verletzt, sagte Schulte-Nölke. Allerdings habe es in jüngster Zeit eine Besserung gegeben, vor allem nach der Vorstellung des Zwischenberichts vor zwei Jahren.
Hilfe lange Zeit zu kurz gekommen
Auch die Hilfe für Betroffene sei über lange Zeit in erheblichem Maß zu kurz gekommen, sagte der Jurist. Für das Erzbistum Hamburg, zu dem sei 1995 viele Gebiete und Kleriker des Bistums Osnabrück gehören, habe sich ein ähnliches Bild gezeigt.
In den vergangenen zwei Jahren seien viele Organisationsmängel verringert worden, gerade auch nach der Veröffentlichung des Zwischenberichts. Das gelte insbesondere für das Bistum Osnabrück, aber – soweit erkennbar – etwas geringer für das Erzbistum Hamburg. Ob die Maßnahmen ausreichten, um die festgestellten Defizite gegenüber den Betroffenen zu beseitigen, könne mit Blick auf den kurzen Beobachtungszeitraum noch nicht abschließend bewertet werden, sagte Schulte-Nölke.
Studie will Sprache der Täter entschlüsseln
Ein wichtiges Thema der Studie sei der Frage gewidmet worden, wie durch Sprache sexualisierte Gewalt umgedeutet werden kann und damit ermöglicht oder nicht verhindert wird. Damit sei es Tätern möglich, ihr Handeln zu verbergen, zu verharmlosen oder als Teil ihrer priesterlichen Aufgaben erscheinen zu lassen, erklärte der Historiker Jürgen Schmiesing. Das Aufdecken solcher Muster sei ein Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt, nicht nur im kirchlichen Kontext.
Betroffene wirkten an Bericht mit
Die Autorinnen und Autoren wollten einerseits die Erfahrungen und das Leid der Betroffenen für die Öffentlichkeit nachvollziehbar darstellen, aber ohne die Betroffenen ungewollt erkennbar zu machen. Daher sei gemeinsam mit Betroffenen das Konzept der „Einblicke“ entwickelt worden, sagte die Historikerin Siegrid Westphal, die zusammen mit Schulte-Nölke die Studie geleitet hat.
Dabei werden in kurzen Erzähltexten charakteristische Ausschnitte aus Interviewberichten und Aktenfunden szenisch dargestellt. Drei Betroffene sexualisierter Gewalt waren als Mitglieder einer Steuerungsgruppe aktiv an der Forschungsarbeit eingebunden.
Stellungnahme von Bischof Dominicus erst kommende Woche
Die Bistumsleitung unter dem Anfang September in sein Amt eingeführten Bischof Dominicus Meier will in der kommenden Woche zu dem Bericht Stellung nehmen. Zuvor sollen die Ergebnisse ausgewertet werden.
Für Betroffene richtet das Bistum eine Telefon-Hotline ein, um allen Interessierten die Möglichkeit zum Gespräch anzubieten. Die Anrufe werden von seelsorglich und beraterisch erfahrenen Personen entgegengenommen. Bei Bedarf wolle das Bistum auch weitere Ansprechpartner vermitteln.
Link zum Abschlussbericht