Das designierte Team Habeck nimmt Gestalt an. Ein versierter Europa-Experte will die Geschicke der Grünen im Bundestagswahlkampf mit lenken. Wirbel gibt es um Oberrealo Özdemir.
Mit der wahrscheinlichen Kandidatur des Staatssekretärs Sven Giegold nehmen die Grünen immer stärker Kurs auf einen Wahlkampf um ihren Spitzenmann Robert Habeck. Gleichzeitig gehen die Verwerfungen in der Partei mit dem Rücktritt eines weiteren Grüne-Jugend-Landesvorstands weiter. Aufgeschreckt sind vor allem linke Grüne. Agrarminister Cem Özdemir vom Realoflügel zieht mit einem kritischen Beitrag zur Migration harte Kritik aus dem linken Flügel auf sich.
Giegold, ein hochrangiger Beamter in Robert Habecks Wirtschaftsministerium, erwägt eine Kandidatur als Politischer Geschäftsführer der Grünen. Das machte der 54-Jährige bei einem Treffen des linken Parteiflügels in Berlin deutlich, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Teilnehmerkreisen erfuhr.
Linker Christ
Giegold habe angeboten, dass er sich beim von den Grünen ersehnten Neuaufbruch aus tiefer Krise an führender Stelle einbringen könne. Ins Feld geführt habe der Partei-Linke etwa sein vom christlichen Menschenbild geprägten humanistischen Asylkurs und seine organisatorische Erfahrung.
Als Bundesgeschäftsführer, in anderen Parteien Generalsekretär genannt, wäre Giegold automatisch Mitglied im Parteivorstand. Die Neuwahl des kompletten Vorstands soll Mitte November auf einem Bundesparteitag in Wiesbaden stattfinden.
Bei einem Erfolg würde Giegold Nachfolger von Emily Büning, der als Politische Bundesgeschäftsführerin Farblosigkeit vorgeworfen wird. Für den Parteivorsitz hatten Franziska Brantner und Felix Banaszak ihre Kandidatur angekündigt. Wahlkampfmanager voraussichtlich ohne Sitz im Vorstand wird Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch. Für die Geschäftsführung hat noch niemand seinen Hut in den Ring geworfen.
Noch ein Habeck-Staatssekretär?
Giegold gilt als versierte Experte etwa beim Klimaschutz, dem für die Partei zentralen Thema. Er saß zwölf Jahre im Europaparlament und gilt als exzellent vernetzt. Bei Parteitagen trägt der Sammler von Plüschtieren schon mal tagelang ein solches mit sich herum – ideal für Smalltalk. In der Ampel-Regierung ist Giegold Staatssekretär im Wirtschaftsressort.
Damit stellt sich die Frage, ob der designierte Kanzlerkandidat Habeck mit der wahrscheinlichen Personalie Giegold die Grünen weiter auf sich ausrichtet. Brantner ist wie Giegold Staatssekretärin in Habecks Ministerium, er beamteter, sie parlamentarische. Aber anders als Brantner gilt Giegold gilt nicht als persönlicher Habeck-Vertrauter: Er arbeite nur gut mit ihm zusammen, heißt es in Parteikreisen weiter.
Nachwuchs in Aufregung
Dennoch herrscht bei jungen und linken Grünen Aufregung. Der Vorstand der Grünen Jugend Schleswig-Holstein erklärte nahezu geschlossen seinen Austritt aus der Partei. Sieben der acht Mitglieder des aktuellen Landesvorstands und drei der vorigen Führung hätten sich dazu entschlossen, sagte die Landessprecherin Katharina Kewitz. Es ist der fünfte Landesvorstand, der dem Parteiaustritt des Bundesvorstands der Nachwuchsorganisation vom vergangenen Mittwoch folgt.
Kewitz erläuterte: „Ich verlasse die Grüne Partei, weil sie nicht bereit ist, sich mit den Reichen und Konzernen anzulegen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu ändern.“ Landessprecher Lars Brommann ergänzte: „Stattdessen trägt die Partei Sozialleistungskürzungen und Asylrechtsverschärfungen mit und fördert so gesellschaftliche Spaltung.“
Özdemir schreckt Parteilinke auf
Für Aufregung sorgte Agarminister und „Oberrealo“ Cem Özdemir, der sich in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ kritisch mit der Migrationspolitik auseinandergesetzt hatte. Seine Tochter werde häufiger „von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert“. Klare Grenzen müssten gezogen werden: „Wer einen wertvollen Teil zu unserem Land beitragen kann und will, ist willkommen. Wer nachweislich Schutz sucht, dem helfen wir. Für alle anderen haben wir keinen Platz.“
Spätestens bis zur Bundestagswahl müssten zudem die demokratischen Kräfte das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz zurückgewinnen, „sonst gerät etwas dauerhaft ins Rutschen“, so Özdemir.
Der Europaabgeordnete Erik Marquardt vom linken Flügel kündigte daraufhin auf X an, die Grünen würden nie rechten Narrativen hinterherlaufen. „Dafür werden wir sorgen.“
Politiker anderer Parteien warfen dem Sohn türkischer Einwanderer Missbrauch der eigenen Rolle und die Verniedlichung von Faschisten vor – und dass „migrantisierte Politiker wie du umfallen“. Von vielen X-Nutzern erhielt Özdemir aber auch viel Beifall.
Lang: Nicht nur auf starken Mann setzen
Am Mittwoch hatte der komplette Bundesvorstand der Partei mit den Co-Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang an der Spitze seinen Rücktritt für Mitte November angekündigt. Die Parteispitze zog damit die Konsequenz aus den Misserfolgen der Grünen bei den jüngsten Wahlen.
Lang wies Spekulationen zurück, dass Habeck sie zum Rückzug gedrängt haben könnte. „Nein, das stimmt nicht“, sagte sie in der ARD. Sie warnte ihre Partei zugleich davor, den Teamgedanken zu vernachlässigen, um nur auf einen einzelnen starken Mann an der Spitze zu setzen.
Giegolds EP-Abschiedsbrief nach Wechsel in Regierung