Der Berlin-Marathon wird 50 Jahre alt. 1974 gingen 750 Läufer an den Start, in diesem Jahr sind es fast 60.000. Erfinder ist ein Berliner Konditor. Er erzählt, wie alles begann.
Horst Milde gründete vor 50 Jahren den Berlin-Marathon. Erstmals spricht er über sein Konditorhandwerk als Schlüssel zum Erfolg, über Depressionen, Herzinfarkte, und wie das Laufen ihm hilft, fit zu bleiben – mit 85 Jahren.
Der Berlin-Marathon wird 50. Wie oft sind Sie selbst mitgelaufen?
Kein einziges Mal! Dafür ist einfach zu viel zu organisieren. Nach einer derartigen Veranstaltung waren wir Veranstalter immer total platt, viel kaputter, als wenn wir mitgelaufen wären. Aber ich bin acht Marathonläufe gerannt: London, in Wien, in Stockholm, in Kopenhagen, zweimal in New York, einmal in Boston, einmal in Honolulu.
Eigentlich sind Sie Konditormeister und hatten eine Bäckerei. War das nicht eine totale Überlastung?
Das frage ich mich auch, ich weiß gar nicht, woher ich die Energie genommen habe. Ein Großteil der Marathonplanung lief letztendlich im Büro der Bäckerei ab. Ich bin dabei immer vorgegangen wie ein Konditor, vor allem bei den internationalen Marathons, die ich besucht habe: Konditoren klauen mit den Augen, habe ich in der Lehre gelernt: Keiner kann ein Kuchenrezept patentieren. Und ich habe viele Ideen, die mir gefielen, einfach kopiert.
Was denn zum Beispiel?
Dazu gehören die Pasta-Party und der Rollstuhlsport 1981, der Frühstückslauf 1984, der Mini-Marathon der Schulen 1989. Dann kam die Chip-Zeitmessung 1994. Auch den ökumenischen Marathon-Gottesdienst in der Gedächtniskirche am Abend vorher haben wir aus dem Ausland übernommen, gehalten von einem Pfarrer, der selbst Marathon läuft. Das ist heute einer der Höhepunkte im Rahmenprogramm. Wir bieten sogar einen Literatur-Marathon mit Lesungen. Manchmal gab es auch Theatervorstellungen zum Thema. Für mich ist der Berlin-Marathon ein Gesamtkunstwerk.
Ein Gesamtkunstwerk im Sinne einer Wagner-Oper?
Nein, eher im Sinne von: ein Fest für alle Sinne. Und jeder und jede ist eingeladen, mitzufeiern. Die Berliner wissen: Der Marathon, das ist unsere Party, die gehört uns allen! Wir haben diese verrückten Zuschauer hier, in Steglitz gibt es zum Beispiel einen Balkon, der ist total dekoriert mit geklauten Streckenschildern. Diese Begeisterung trägt entscheidend dazu bei, dass sich die Gäste und ihre Familien hier wohlfühlen.
Wie kommt ausgerechnet ein Konditormeister auf die Idee zum Berlin-Marathon?
Ich war Student der Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität und nahm nebenher als Mittelstreckenläufer an Wettkämpfen teil. Im Januar 1964 wurden wir auch zu Crossläufen ins Ausland eingeladen, einer davon war in Frankreich, in Le Mans. Wir waren alle privat untergebracht, ich war bei einer Zahnarzt-Familie. Zum Mittag hat der uns Schnecken serviert, da hat sich mir fast der Magen umgedreht, aber aus Höflichkeit habe ich zugelangt. Der Lauf war toll, ich entschloss mich, das nach Berlin zu importieren. Im November 1964 veranstalteten wir dann den ersten Berliner Cross-Country-Lauf mit der FU Berlin am Teufelsberg im Grunewald.
Aufruf zum ersten Berlin-Marathon am 13. Oktober 1974
© Horst Milde
War das wie ein Marathon, nur in klein?
Nein, ganz anders. Wir haben alles improvisiert. Die Laufstrecke ging durch den Wald, alles war umgewühlt von den Wildschweinen, man musste vorsichtig sein, dass man nicht stolpert. Es gab Matsch und ein Moor, in dem man schon einmal einen Schuh verlieren konnte, dann wieder Abschnitte mit Sand und Kies, dazwischen gefällte Bäume, über die man springen musste.
Damals war der Laufsport noch ein Nischenhobby, wie gelang es Ihnen, das als Volkssport zu verkaufen?
Anfangs traten meist nur 70 oder 80 Wettkämpfer an, weil damals nur Vereine ihre Mitglieder anmelden durften. Wir dagegen öffneten das für alle, auch für Vereinslose. Das war damals eine Sensation, wir bekamen zehnmal so viele Anmeldungen wie vorher, 750 und mehr. „Berliner Volksmarathon“ nannten wir daher den ersten Berlin-Marathon 1974, um zu signalisieren: Jeder kann mitmachen.
Wie lief denn Ihr erster Volksmarathon vor 50 Jahren ab?
Wir improvisierten. Die Startlinie war einfach ein Kreidestrich auf der Straße, im Ziel gab es heiße Brühe, wir hatten ja damals noch keine Ahnung, was der Körper beim Rennen an Essen und Trinken benötigt. Im ersten Jahr hatten wir 286 Teilnehmer, nur 244 kamen ins Ziel. 244 Finisher.
Wie machten Sie aus diesem Spontilauf Deutschlands größten Marathon mit fast 60.000 Teilnehmern?
Unser Durchbruch kam 1981, als wir erstmals den Marathon durch die Innenstadt machen durften. Zunächst war die Berliner Polizei strikt dagegen. Die Antwort war immer: Die Straße gehört den Autos, Läufer sind Verkehrshindernisse! Aber dann meldete die französische Militärverwaltung 1981 einen 25-Kilometer-Lauf an, der hieß „25 km de Berlin“. Das lief damals unter dem alliierten Recht, die konnten das einfach so entscheiden, salopp gesagt: Wenn die einen Panzer auf eine Kreuzung stellten als Absperrung, dann konnte niemand etwas dagegen sagen. Ich schrieb also der Polizei einen Brief und forderte: Wenn die Franzosen das dürfen, dann will ich das auch!
Zog Ihr Argument?
Nein, die Polizei weigerte sich zunächst. Es brauchte ein Dinner mit dem höchsten US-Beamten der Stadt, John Kornblum, der wurde später US-Botschafter. Der fand: Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Er setzte sich für den Marathon ein und plötzlich ging es. Am 27. September 1981 starteten wir erstmalig vom Reichstag aus. Viele Dinge liefen organisatorisch noch nicht ganz rund. Und die Touristen am Reichstag hatten einen direkten Einblick in die Pissoirs am Start. Wir hatten 3486 Läufer am Start, das waren Rekordzahlen für die Bundesrepublik damals.
Berlin gilt als schnellster Marathon der Welt, mit 13 Weltrekorden seit 1974. Was ist das Geheimnis der Strecke, einfach nur, dass sie flach ist?
Nein, es hat sich herumgesprochen, wie toll die Stimmung hier in der Stadt ist. Das zieht auch die Top-Athleten an. Wir haben den Marathon zu einem Volksfest gemacht, spätestens seit wir 1990 erstmalig durch das Brandenburger Tor von West nach Ost und zurück laufen durften. 25.000 Läufer sind von Westberlin nach Ostberlin und zurück gelaufen. Die sollten sich nach Meinung der Grenztruppen sogar einen Einreisestempel holen, um durch Ostberlin zu laufen, das war ja drei Tage Tage vor der Wiedervereinigung. Aber auch das haben wir geregelt bekommen.
Wieder mit ein paar Konditorentricks?
Na klar. Mir hat mein Konditorenhandwerk viele Türen geöffnet. Immer wenn ich eine schwierige Sitzung zu bewältigen hatte, mit Behörden und Mitarbeitern, brachte ich Kuchen mit, schon waren alle gut gelaunt und locker.
Laufen Sie selbst immer noch?
Ja, jeden zweiten Tag. Ich laufe hier durch vier Parks und ein Kleingartengelände. Ich kämpfe immer darum, unter einer Stunde zu bleiben. Manchmal versuche ich vergeblich, schnelle Fußgänger zu überholen, manchmal schaffe ich das, manchmal nicht. Ich muss das machen für meine Gesundheit, ich hatte 2004 einen Herzinfarkt.
Horst Milde am 12. Juli 1964 im Mommsenstadion (Berlin-Charlottenburg) bei den Berliner Meisterschaften über 800 Meter. Mildes Zeit: 1:51.8
© Horst Milde
Ausgerechnet in dem Jahr, als Sie mit 65 Jahren die Organisation des Berlin-Marathons nach 30 Jahren abgaben, hatten Sie einen Infarkt? Vielleicht waren es der Stress und Ärger bei der Übergabe, ich weiß es auch nicht. Ich hatte nach dem Joggen Schmerzen und wurde von der Feuerwehr ins Krankenhaus gefahren. In der Ambulanz haben die ein EKG gemacht und schreckten plötzlich auf: Herr Milde, Sie hatten eben gerade einen Herzinfarkt. Die haben mir sofort das Hemd und die Schuhe weggerissen, in wenigen Minuten hatte ich eine Herz-OP und drei Stents gesetzt. Wenige Tage später habe ich dann schon wieder im Treppenhaus des Krankenhauses trainiert und bin rauf- und runtergelaufen, um wieder fit zu werden.
Schon 1998 mussten Sie bereits einen Verlust verkraften, als Sie die Familien-Bäckerei, die sie in dritter Generation geführt hatten, verkauften.
Ja, das war eine schlimme Zeit damals. Viele Einzel-Handwerksbetriebe überlebten nicht, da sich in Berlin plötzlich Großfilialisten an jeder Ecke breitmachten, das setzte mir zu. Ich fiel in eine Depression, das ging ein halbes Jahr. Ich konnte nachts nicht mehr schlafen und war unglücklich, ich bekam auch Medikamente dagegen, aber das Entscheidende war, dass mein Arzt mir sagte: Geh laufen, das bringt dich auf andere Gedanken. Und richtig, das Laufen hat gewirkt. Und die Musik.
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Die Musik?
Ja, ich liebe klassische Musik. Gerade waren wir in der Philharmonie, Bruckners Sechste Symphonie, Sir Simon Rattle dirigierte.
Sie kennen Rattle ebenfalls vom Marathon?
Ja, er hatte 2003 den Startschuss gegeben, gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit. Marathon und Kultur gehören für mich zusammen. 1990 zum Beispiel gab es bei uns am Start auch Klassik, die Ode an die Freude. Dieses Hochgefühl, darum ging es mir immer beim Berlin-Marathon: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.
Was machen Sie am 29. September, wenn der Startschuss in Berlin zum fünfzigsten Mal fällt?
Da werde ich wie immer die 49 Jahre vorher am Start und im Ziel stehen, zuschauen, applaudieren, gratulieren und fotografieren.
In Kooperation mit SCC EVENTS überträgt RTL die diesjährige Jubiläumsveranstaltung des Berlin Marathons am 29. September von 8.30 Uhr bis 12.30 Uhr erstmalig live im TV sowie auf RTL+