Vizepräsidentschaftskandidat: Tim Walz ist Kamalas Trumpf gegen Trump. Das ist seine Geschichte

Waffenbesitzer, Footballcoach und linker Patriot – Tim Walz hat als Vizepräsidentschaftskandidat bislang keine Fehler gemacht. Wer ist der Mann, den sogar Republikaner wählen?

Es ist schon Abend, die Schüler sind längst zu Hause, doch Tim Walz schlüpft in der Freedom High School von Bethlehem in die Rolle, die zum Ort passt – und ihm bestens vertraut ist: die des Lehrers. Um die etwa 2.000 Zuhörerinnen und Zuhörer in der Sporthalle für sich zu gewinnen, probiert es der einstige Geografielehrer mit einer Geschichtsstunde: Es geht um Stahl, Panzer – und Nazis.

Im Zweiten Weltkrieg sei Stahl aus Minnesota, wo Walz seit 2019 Gouverneur ist, in Produktionswerke in Pennsylvania gebracht worden. „Es waren unsere Leute, die die Panzer bauten, die den Zweiten Weltkrieg gewannen und die Welt von der Nazi-Unterdrückung befreiten“, sagt Walz. Applaus.

Heutzutage aber gebe es republikanische Kandidaten, die „stolz darauf sind, sich selbst als Nazis zu bezeichnen“. Er meint Mark Robinson, der in North Carolina für das Gouverneursamt kandidiert und von Donald Trump unterstützt wird. Mehrere Medien berichteten kürzlich, der Afroamerikaner habe sich in der Vergangenheit selbst einen „schwarzen Nazi“ genannt. Buhrufe im Saal.

Walz lässt das wirken, ruft dann in die Menge: Ohne die Menschen in solchen Industrieregionen würde es keine Brücken, Autobahnen und Wolkenkratzer in Amerika geben. Das Publikum dankt es ihm und skandiert: „USA, USA, USA“ – wieder und wieder.

Der Vizepräsidentschaftskandidat von Kamala Harris ist in Betlehem, einer Stadt mit etwa 80.000 Einwohnern, im Schlüsselstaat Pennsylvania zu Gast. Vor vier Jahren hatte Joe Biden den Landkreis mit weniger als einem Prozent Vorsprung gewonnen. Viele Arbeiter in der Region sympathisieren mit Trump. Hier zählt im wahrsten Sinne jede Stimme. Und wer Pennsylvania verliert, verliert mit hoher Wahrscheinlichkeit die Präsidentschaftswahl.

Walz weckt patriotische Gefühle bei den Demokraten

Tim Walz gelingt bei seinen Kundgebungen etwas, das für Demokraten keine Selbstverständlichkeit ist. Er weckt patriotische Gefühle bei seinen Zuschauerinnen und Zuschauern. Als Biden vor vier Jahren antrat, gab es keine „USA“-Rufe. Patriotismus kann auch ein linkes Projekt sein, findet Walz, der im tiefroten Nebraska aufgewachsen ist und sich gerne als jagender Waffenbesitzer inszeniert. Eine Mütze im Camouflage-Look, auf der die Namen Harris und Walz stehen, verkauft sich in diesen Tagen blendend.

Am Dienstagabend wird Walz auf Senator J.D. Vance für eine Fernsehdebatte treffen. Im Schatten von Harris und Trump kommt es in diesem Jahr zu einem der wohl spektakulärsten Vizekandidaten-Duelle in der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten. J.D. Vance, 40 Jahre alt, aus Ohio, gegen Tim Walz, zwanzig Jahre älter, aus Nebraska. Es sind zwei Männer aus unterschiedlichen Generationen, beide aber aufgewachsen in schwierigen Verhältnissen im Mittleren Westen.

Rede von Tim Walz 7.56

Für gewöhnlich haben Vizekandidaten vor allem eine Aufgabe: keinen Schaden im Wahlkampf anrichten. Für Vance ist das gar nicht so einfach, war er einst doch ein Trump-Hasser, der den früheren Präsidenten als „Idioten“ und „Amerikas Hitler“ bezeichnet hatte. Nun tritt der Wendehals Vance als eine Art Verstärker für Trump auf, mindestens so extrem wie das Original.

Ganz anders Walz: Der Gouverneur von Minnesota hat sich als Sozialpolitiker einen Namen gemacht. Er soll helfen, Vorurteile gegen die erste schwarze Präsidentschaftskandidatin in der Geschichte des Landes zu entkräften. Walz und Vance sind gänzlich unterschiedliche Charaktere, doch sie haben dasselbe Jobprofil: Für und mit ihren Chefs den Mittleren Westen gewinnen. Walz versprüht bei seinen Auftritten „dad vibes“, wie seine Fans es liebevoll ausdrücken. Er sei eben ein ganz normaler Typ von nebenan, der in einfachen Sätzen spricht, ganz anders als der Bestsellerautor Vance, der an einer Eliteuniversität studiert und im Silicon Valley gearbeitet hat.

„Ich war stolz, die nächsten 24 Jahre die Uniform dieses Landes tragen zu dürfen“

In den 1960er- und 1970er-Jahren wächst Timothy James Walz zunächst in Valentine im Bundesstaat Nebraska auf. 5500 Menschen und 184.000 Rinder leben in der Gegend. Vater James Walz ist der Superintendent für die örtlichen Schulen, die Mutter Hausfrau. Tim Walz ist sportbegeistert, spielt Football, Basketball und Golf.

Doch nach dem ersten Jahr in der Highschool ändert sich sein bis dahin unbedarftes Leben dramatisch. Beim Vater, einem Kettenraucher, wird Lungenkrebs diagnostiziert. Die Familie zieht ins noch ländlichere Butte, ebenfalls in Nebraska, wo seine Mutter aufgewachsen ist und Unterstützung durch ihre Familie erfährt. Die Behandlungskosten werden zu einer immensen finanziellen Belastung.

„Zwei Tage nach meinem 17. Geburtstag nahm mich mein Vater mit zur Nationalgarde“, erzählt Walz gerne im Wahlkampf. „Ich war stolz, die nächsten 24 Jahre die Uniform dieses Landes tragen zu dürfen.“ 1984, im Geburtsjahr von J.D. Vance, stirbt der Vater von Tim Walz. Von da an ist die Familie auf eine Hinterbliebenenrente angewiesen, die kaum reicht. Jahrzehnte später wird Tim Walz als Gouverneur von Minnesota ein Gesetz unterschreiben, das Familien hilft, die aufgrund hoher Arzt- und Krankenhauskosten in Probleme geraten.

Sherri Blasing ist Rektorin an der Mankato West High School, an der auch einst Tim Walz unterrichtet hatte. Blasing und Walz waren zudem 22 Jahre lang Nachbarn in Mankato
© Marc Etzold

Bevor Walz in die Politik geht, arbeitet er mehr als eineinhalb Jahrzehnte als Lehrer, zunächst in Nebraska, dann für ein Jahr in China, später in Mankato im US-Bundesstaat Minnesota. 

Dort erinnert man sich noch gut an ihn. Spricht man Sherri Blasing, die heutige Rektorin der Mankato West High School, auf Walz an, dann geht sie erst einmal zur Vitrine mit den Pokalen im Eingangsbereich der Schule. Sie zeigt auf die Auszeichnung von 1999, damals gewann das Football-Team der Schule, die Scarlets, die Meisterschaft in Minnesota. „Tim war unser Trainer für die Defensive“, sagt Blasing. Ein Vierteljahrhundert später ist das wieder seine Aufgabe. Er organisiert die Defensive für Kamala Harris, damit ihre Angriffe gegen Trump Erfolg haben.

Blasing kennt Tim Walz wahrscheinlich so gut wie kaum sonst jemand in Mankato. 22 Jahre lang waren sie nicht nur Kollegen, sondern auch Nachbarn. „Er hat seinen Schülern nicht gesagt, was sie denken sollten. Er hat ihnen kritisches Denken beigebracht“, erzählt sie. Sie sollten in der Lage sein, sich eine eigene Meinung bilden zu können. Walz unterrichtet an der Schule Geografie, was auch Politik und Geschichte umfasst. Nicole Griensewic gehört damals zu seinen Schülerinnen: „Tim Walz ist der Lehrer gewesen, bei dem alle gerne am Unterricht teilgenommen haben“, erinnert sich die 40-Jährige,

PAID Tim Walz auf Rally mit Harris 18.05

Dass Walz überhaupt in die Politik gegangen ist, hängt maßgeblich mit dem früheren Präsidenten George W. Bush zusammen. 2004 kommt Bush nach Mankato, er steckt mitten im Wahlkampf für seine Wiederwahl. Einige Schüler wollen sich dessen Rede anhören, dürfen aber nicht hinein, weil sie einen Anstecker von John Kerry tragen, dem damaligen Kandidaten der Demokraten. Walz begleitet seine Schüler – als sie abgewiesen werden, ist er empört. Später spricht er davon, dass ihn dieser Moment politisiert habe. Es gibt auch ein Foto rund um den Bush-Besuch, auf dem Walz ein Plakat gegen Bush und für Kerry in die Höhe hält.

Bob Ihrig hat die Verwandlung des Lehrers Tim Walz zum Politiker aus nächster Nähe beobachtet. Im Jahr 1996 führt er die Einstellungsgespräche mit Walz an der Mankato West High School, sie werden erst Kollegen und schließlich Freunde. Im Jahr nach der Bush-Kundgebung entschließt sich Walz, für den Kongress zu kandidieren. „Er ist gegen einen amtierenden Republikaner angetreten, der das Amt schon mehrere Amtszeiten lang innehatte“, erzählt Ihrig in einem Café in der Innenstadt von Mankato. Das südliche Minnesota, in dem Walz antritt, ist republikanisches Stammland.

Bob Ihrig hatte einst die Einstellungsgespräche mit Tim Walz an der Mankato West High School geführt. Erst waren sie Kollegen, später auch Freunde
© Marc Etzold

Damals wird an einem Logistikprojekt gearbeitet, bei dem Kohle aus Wyoming per Bahn durch das südliche Minnesota transportiert werden soll. „Wir sprechen von mehreren Zügen pro Tag, die hier langfahren sollten“, erinnert sich Ihrig. In Rochester, etwa eineinhalb Stunden von Mankato entfernt, macht sich das örtliche Krankenhaus Sorgen, die Kohle-Transporte könnten die Gesundheit ihrer Patienten beeinträchtigen. Walz greift die Bedenken auf, stellt sich gegen das Projekt und gewinnt die Wahl gegen den republikanischen Amtsinhaber, der die Bedenken beiseite gewischt hatte. „Mit seinem Sieg hat er alle überrascht und auch ein bisschen schockiert“, sagt Ihrig. Noch heute erfüllt es ihn mit Stolz, wenn er die Geschichte erzählt.

Von 2007 bis 2019 vertritt Walz den ersten Wahlbezirk von Minnesota im Abgeordnetenhaus in Washington, D.C. Anschließend wird er Gouverneur des Staates, sichert das Recht auf Abtreibung ab und organisiert freies Schulessen für alle Schülerinnen und Schüler in Minnesota.

„Tim Walz ist ein Mann der Mitte, ein Moderator“

Der Republikaner Michael Brodkorb ist in dieser Zeit einer der Gegner von Tim Walz. „Ich habe versucht, Walz wieder aus dem Kongress zu schmeißen“, sagt er heute mit einem Lächeln. Brodkorb ist damals für die republikanische Partei als Stratege tätig. Es ist sein Job, Walz das Leben möglichst schwer zu machen.

Doch mit den Jahren fallen seine politischen Überzeugungen und die der Republikaner immer weiter auseinander. Brodkorb glaubt nicht, dass die Politik einen Einfluss darauf haben sollte, welche Entscheidungen Frauen in Absprachen mit ihren Ärztinnen und Ärzten treffen. Walz’ Einstellung zum Thema Abtreibung hält Brodkorb für richtig. „Tim Walz ist ein Mann der Mitte, ein Moderator“, sagt er. „Seine Art, Politik zu machen, kommt bei vielen Menschen gut an, die in Vororten und ländlichen Gebieten leben.“Analyse Rede Harris 08.09

Brodkorb hadert mit der republikanischen Partei, seitdem Trump 2016 erstmals der Kandidat wurde. Er habe Trump kein einziges Mal gewählt. Diesmal will er Kamala Harris und Tim Walz seine Stimme geben. Brodkorb sagt: „Ich glaube, Walz wird ein guter Vizepräsident sein.“

Kaum jemand hatte Tim Walz auf dem Zettel, bevor Harris ihn zu ihrem Vizekandidaten machte. Während die amtierende Vizepräsidentin sich erkennbar in der Mitte profilieren und als gewählte Präsidentin beispielsweise ein strenges Gesetz zum Schutz der amerikanischen Südgrenze durch den Kongress bringen will, kommt Walz eine andere Aufgabe zu. Er soll zum einen den linken Parteiflügel der Demokraten bedienen und zum anderen soziale Probleme im Land in Washington adressieren.Infobox US-Wahl-NL

Große Fehler hat Walz im Wahlkampf bislang nicht gemacht. Auf dem Parteitag der Demokraten hatte er viele zu Tränen gerührt, als er erzählte, dass seine Frau Gwen und er einst Kinderwunschbehandlungen durchlaufen haben. 

Tim Walz gelingt es immer wieder, seine Konkurrenten zu reizen. Vor einigen Wochen bezeichnete er Trump und Vance schlicht als „weird“, als „merkwürdig“. Unklar, ob das spontan war oder kalkuliert, doch es verfing: Fast bei jedem Auftritt der Demokraten fällt der Begriff nun. Er wurde zu einer Marke von Walz – so wie der selbst inzwischen eine Wurde.