Ricarda Lang und Omid Nouripour haben vorgemacht, wie man politische Verantwortung übernimmt. Was bewegt das wohl im FDP-Vorsitzenden?
Der Bibelvers für diese Woche steht im Jakobusbrief Kapitel 3, Vers 17: „Die Weisheit aber von oben her ist zuerst lauter, dann friedfertig, gütig, lässt sich etwas sagen, ist reich an Barmherzigkeit und guten Früchten, unparteiisch, ohne Heuchelei.“
Ich möchte wirklich nicht mit Christian Lindner tauschen.
Seit seinem Antritt als Finanzminister in dieser Bundesregierung ist die FDP in sieben von elf Landtagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg lag sie einmal knapp über und zweimal knapp unter der Ein-Prozent-Marke. In den vier Landesparlamenten, in die sie eingezogen ist, hat sie ausnahmslos Stimmen verloren. Der jüngsten „Insa“-Umfrage zufolge steht die FDP im Bundesschnitt bei 3,5 Prozent. Ein Beliebtheitswert, der mit Hausaufgaben, Nierensteinen und Schwiegereltern konkurriert.
Das Erfolgsbilänzchen der FDP
Man muss schon Politikwissenschaftler mit Forschungsschwerpunkt auf Kleinparteien sein, um die gegenwärtigen Erfolge der FDP qualifiziert unter die Lupe zu nehmen. Zum Glück gibt es die Webseite www.fdp.de/erfolge, wo die Partei bar jeder Zurückhaltung elf ihrer Errungenschaften selbst aufführt.
Darunter: das Deutschlandticket. Verwunderlich, schließlich ging dessen Erfolg auf seinen ursprünglich niedrigen Preis von neun Euro zurück. Ab nächstem Jahr soll das Deutschlandticket 58 Euro kosten, was einer Preissteigerung von 544 Prozent in anderthalb Jahren entspräche.
Ein weiterer Erfolg der FDP lautet laut FDP: „Mehr Tempo für Infrastrukturprojekte“. Angesichts einstürzender Brücken und stillstehender Eisenbahnen ein durchaus mutiger Themenschwerpunkt. Und spätestens bei der Erfolgsmeldung „Ein Update für den Startup-Standort Deutschland“ frage ich mich, ob sich ein dänisches Satire-Kollektiv in die Webseite der FDP gehackt hat.
Wie gesagt, ich will mit Christian Lindner nicht tauschen. Politik ist ein hartes und undankbares Geschäft. Und trotzdem müsste eigentlich mal jemand Christian Lindner beiseite nehmen und ein freundliches, aber bestimmtes Wort sprechen. Dass es so nicht weitergehen kann. Dass es anders werden muss. Dass die FDP nur eine Chance hat, wenn sie sich verändert. Ohne ihn.
Die Grünen haben genau dieses Gespräch geführt. Am Mittwochvormittag gaben die Parteivorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang bekannt, dass ihr gesamter Bundesvorstand zurücktreten werde, zum nächsten Parteitag wird eine neue Parteiführung gewählt. Am Abend desselben Tages kündigt der Vorstand der Grünen Jugend seinen Austritt an.
Da können die Russen ausnahmsweise nichts für
Auch den Grünen geht es schlecht. Genau wie die FDP kranken sie an dieser Bundesregierung und an ihrer Rolle in der Ampel-Koalition. Dass russische Desinformationskampagnen und der gesammelte Hass des rechten Randes auf sie herniederregnen, ist richtig. Dass viele Grüne die schlechte Bilanz ihrer Partei aber ausschließlich damit erklären, offenbart einen schwach ausgeprägten Umgang mit Kritik und Selbstkritik. Wer die Grünen in den vergangenen zwei Jahren beobachtet hat, wird feststellen, dass es der Partei an Führung, an Strategie, an Durchsetzungsfähigkeit und vor allem Überzeugungskraft fehlt. An vielen Stellen auch an Qualifikation und politischem Handwerk. Nichts davon hat mit Russen oder Rechtsextremen zu tun.
Zeit für neue Kompetenzen
Es liegt in der Verantwortung einer Parteiführung, die Geschicke ihrer Parteiorganisation erfolgreich zu lenken. Wo dies nicht hinreichend geschieht, braucht es neue Führung, neue Prozesse, neue Institutionen und neue Aufsichtsorgane. Man könnte auch sagen, dass die Grünen einen realpolitischen Umgang mit den Krisen unserer Zeit erlernen müssen. Das könnte durch Menschen geschehen, die bei harten Auseinandersetzungen um „Innere Sicherheit“ und „Migration“ sprechfähig und belastbar sind. Die Polizisten Jan-Denis Wulff und Irene Mihalic wären dazu qua Ausbildung genauso in der Lage wie die stellvertretenden Ministerpräsidentinnen Mona Neubaur und Aminata Touré durch ihre Regierungserfahrung. Das Personal ist also da, die Partei müsste nur den Mut haben, auf gestandene Persönlichkeiten zu setzen, anstatt sich in Grabenkämpfe zu ergehen und am Ende ein halbes Dutzend Klima-Aktivisten ohne Berufserfahrung in ihren Vorstand zu berufen.
Wer auch immer es am Ende werden wird, sollte der Entscheidung seiner Vorgänger Respekt zollen. Die haben Fehler erkannt, Verantwortung übernommen und ihre Konsequenzen gezogen. Als halbwegs aufmerksamer Beobachter des Politikbetriebs kann ich nicht anders, als ein solches Verhalten „eher ungewöhnlich“ zu nennen.
Das erkennt man vor allem an den erstaunten Reaktionen, wenn alle Jubeljahre jemand seinen Schreibtisch verlässt, der rechtmäßig noch länger daran kleben könnte. Als nach der Bundestagswahl 2021 die beiden CDU-Politiker Annegret Kramp-Karrenbauer und Peter Altmaier auf ihre Bundestagsmandate verzichteten, um jüngeren Kollegen den Einzug in den Bundestag zu ermöglichen, waren viele Menschen im politischen Berlin überrascht. Einige sogar schockiert. Nicht über den respektablen Charakterzug der ehemaligen Bundesverteidigungsministerin und des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers, sondern über die schlichte Tatsache, dass es Berufspolitiker gibt, denen Land und Partei tatsächlich wichtiger sind als die eigene Karriere. Kramp-Karrenbauer und Altmaier reagierten mit ihrem Rückzug auf die Wahlniederlage der CDU bei der Bundestagswahl 2021. Und weil sie einen Generationenwechsel einleiten wollten.
Das kennt man auch jenseits des Atlantiks. Nach dem Fernsehduell zwischen Joe Biden und Donald Trump im Juni dieses Jahres wurde auch dem letzten Demokraten klar, dass mit diesem Mann keine Wahl mehr zu gewinnen ist. Die beinahe 60 Jahre alte Kamala Harris übernahm und dreht nun beständig das Ruder.
Vielleicht kann Christian Lindner sich an 2013 erinnern
Als die FDP im Jahr 2013 den Einzug in den Bundestag verpasste, gab der Parteivorsitzende Philipp Rösler auf. Auch sein Vorgänger Guido Westerwelle trat nach zehn Jahren an der Spitze der FDP zurück, nachdem die Partei mehrere Landtagswahlen verloren hatte und aus den Parlamenten flog. Der damals 34-jährige Christian Lindner übernahm die Führung und verdoppelte bei der Bundestagswahl 2017 mit einer klugen und handwerklich gut gemachten Kampagne das Ergebnis seiner Partei auf 10,7 Prozent. Im Jahr 2021 erreicht die FDP 11,5 Prozent. Das respektable Zeugnis seines politischen Talents.
Nun aber scheint das Ende der liberalen Fahnenstange erreicht zu sein. Wie man nach mehreren Niederlagen seine Zeit an der Macht würdevoll beendet, haben Omid Nouripour und Ricarda Lang gerade vorgemacht. Es braucht nun auch an der Spitze der FDP Menschen, die Fehler erkennen, Verantwortung übernehmen und Konsequenzen ziehen.
Ich möchte wirklich nicht mit Christian Lindner tauschen.