Die Grünen-Spitze zieht sich zurück und ebnet den Weg für Vize-Kanzler Robert Habeck als Kanzlerkandidat. So kommentieren Medien die Partei in der Krise.
Erst hatte der komplette Bundesvorstand der Partei mit den Co-Vorsitzenden Omid Nouripour und Ricarda Lang seinen Rücktritt für Mitte November angekündigt. Am späten Abend folgte die Austritts-Ankündigung der Vorsitzenden der Grünen Jugend. Auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden soll ein neuer Parteivorstand gewählt werden, der die Grünen in den Bundestagswahlkampf führen soll.
„Eingeständnis eines Scheiterns“
„Frankfurter Rundschau“: „Kurz nach der dritten von drei desaströsen Landtagswahlen haben Omid Nouripour, Ricarda Lang und der restliche Bundesvorstand der Grünen erklärt, dass sie ihre Ämter niederlegen. Es ist ein Paukenschlag, der ihrer ‚geliebten Partei‘ in der Krise einen Neustart ermöglichen soll. Und das Eingeständnis eines Scheiterns. Die Grünen haben es unter dieser Führung nicht geschafft, in weiten Teilen der Bevölkerung als Partei wahrgenommen zu werden, die erklärt statt zu bevormunden. Die mit ihrem Personal Sympathie erzeugt statt Aversionen. Und die zeigt, dass sie sich auch in einer schwierigen Koalition durchsetzen kann. Das Symbol, das mit neuem Personal ausgesendet werden kann, lautet: Wir haben verstanden, dass sich etwas ändern muss. Das ganze Führungsteam stellt sich dieser Verantwortung. Dass nicht einzelne Personen herausgepickt werden, wie sonst in parteiinternen Machtkämpfen üblich, ist dabei bemerkenswert solidarisch. Doch es zeigt zugleich, wie groß der Druck war.“
„Dithmarscher Landeszeitung“: „Die Gesichter der Partei waren und sind selten die Vorsitzenden, vor allem, wenn die Grünen in Regierungsverantwortung sind. Es verheißt daher für die Bundestagswahl nichts Gutes, wenn mit Robert Habeck ausgerechnet einer der Hauptverantwortlichen für das desaströse Bild der Koalition als Kanzlerkandidat auf den Schild gehoben werden soll (…) Der Rücktritt von Lang und Nouripour ist konsequent, aber nicht entscheidend.“
„Rhein-Neckar-Zeitung“: „Mit ihrem geschlossenen Rücktritt erweist die Grünen-Spitze ihrer Partei einen großen Dienst. Indem Ricarda Lang und Omid Nouripour die Verantwortung für die verpatzten Landtagswahlen auf sich laden, ersparen sie sich und den Grünen eine potenziell zermürbende Fehleranalyse und destruktive Schuldzuweisungen. Zudem verlässt eine Parteichefin das Rampenlicht, die von immer mehr Gegnern (und einem hasserfüllten Internet-Mob) als Zielscheibe ausersehen worden war. Sachlich gerechtfertigt waren die Angriffe auf die 30-Jährige zwar fast nie, dafür oft frauenverachtend. Trotzdem waren die Hetzkampagnen nicht nur eine persönliche Last, sondern auch vermeidbares Störfeuer – so unschön es auch ist, dass die Netz-Trolle diesen Rückzug bejubeln.“
„Augsburger Allgemeine“: „Der einzige Zweck der Grünen scheint heute zu sein, als Feindbild zu fungieren. Dass vor allem die CSU sich an ihnen abarbeitet, mag die grüne Parteiführung zu Recht kritisieren – Mitleid erwarten sollte sie nicht. Die Grünen haben sich durch eigene Fehler angreifbar gemacht, haben ihren Gegnern regelrechte Steilvorlagen geliefert.“
Macht der Grünen-Vorstand Platz für Habeck?
„Neue Osnabrücker Zeitung“: „Für die Ampel-Regierung bedeutet der Umsturz bei den Grünen zum jetzigen Zeitpunkt eine weitere Schwächung. Das Land braucht gerade eine funktionierende Regierung, die Wirtschaft muss wieder auf die Beine kommen, in der Migrationspolitik sind grundlegende Änderungen notwendig. Eigentlich braucht es dafür gerade Verlässlichkeit, klare Verantwortlichkeiten, entschlossenes Handeln. Und keine Regierungspartei ohne Führung. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass die Koalition noch durchhält bis zur nächsten Wahl.“
„Leipziger Volkszeitung“: „Mit Nouripour und Lang gehen zwei Leute, denen es gelungen ist, die immer noch basisdemokratische Partei nach innen zu stabilisieren und die vielen Anfeindungen gegen die Grünen abzufedern. Am Ende hatten sie nicht genug Beinfreiheit neben den die Partei dominierenden Figuren in der Regierung, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock. Es ist nun damit zu rechnen, dass Habeck versuchen wird, die neue Parteispitze strategisch für seine Kanzlerkandidatur aufzustellen.“
„Stuttgarter Nachrichten“: „Der Personalwechsel an der Spitze wird für eine Rückkehr zu Wahlerfolgen nicht reichen. Dafür müssen sich die Grünen auf die Frage einlassen, warum sich die Ampel-Verdrossenheit bei so vielen Wählern vor allem an ihnen festmacht, warum Begriffe wie Bevormundung oder gar Gängelung so häufig mit ihnen in Verbindung gebracht werden.“
„Weser-Kurier“: „Der Rücktritt des gesamten Bundesvorstands der Grünen war überfällig. Besonders die Niederlage in Brandenburg hat die Grünen hart getroffen … Speziell an der Person Ricarda Lang hatte sich in der Vergangenheit viel Kritik entzündet. Es bleibt der Eindruck, dass die 30-Jährige den Anforderungen noch nicht gewachsen war. Aber auch ihr Mit-Sprecher, Omid Nouripour, reagierte zuletzt deutlich unsouverän, als es um die Zukunft der Ampelkoalition ging. Es ist durchaus verständlich, dass der grüne Parteichef keine Lust mehr auf den Dauerzoff hat. Aber das darf man als Parteisprecher nicht so deutlich nach außen tragen.“
„Nürnberger Zeitung“: „Wer auch immer Lang und Nouripour an der Parteispitze nachfolgen wird – es ist unwahrscheinlich, dass ihnen ein schneller Erholungskurs gelingt, der bei der Bundestagswahl in einem Jahr wirkt. Die Grünen reüssieren noch dort, wo die von ihnen angestrebte Transformation der Gesellschaft am wenigsten weh tut: in gentrifizierten Großstadtquartieren mit einem hohen Anteil an sicheren Einkommensbeziehern aus dem öffentlichen Dienst. Eine Volkspartei sind die Grünen nicht, auch wenn manche in der Partei und bei ihr freundlich gesinnten Medien das glaubten. Sie sind eine Milieupartei. Und werden es bleiben.“
„Ludwigsburger Kreiszeitung“: „Tatsächlich brechen für die Grünen schwierige Zeiten an. Zwar mögen sich die Machtverhältnisse in der Partei, die lange stark zersplittert waren, recht schnell zurecht ruckeln – alles dürfte auf den möglichen Kanzlerkandidaten Robert Habeck zugeschnitten werden. Doch wohin der Weg der Grünen führen soll und muss, ist damit noch längst nicht geklärt.“
„Reutlinger General-Anzeiger“: „Der Neuanfang ist in Wirklichkeit eine Personalrochade, um die Grünen auf die bevorstehende Bundestagswahl vorzubereiten. Dafür braucht die Partei neue Gesichter, die Wahlkampferfahrung haben und das Vertrauen von Robert Habeck genießen, dem wahrscheinlichen Spitzenkandidaten.“
Sollten auch andere Ampel-Parteien Konsequenzen ziehen?
„Südwest Presse“: „Der Rücktritt als drastisches, wichtiges Symbol könnte nicht nur den Grünen Aufwind geben, sondern auch die Koalitionspartner gehörig unter Druck setzen. Weder SPD noch FDP stehen besser da als ihr ungeliebter Partner im Bund. Wann ziehen diese Parteien eigentlich mal Konsequenzen?“
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Die Probleme der Grünen sind massiv: Sie sind Teil der dauerstreitenden Ampel, ihr Kernthema, die Klimapolitik, ist nicht mehr en vogue und – was möglicherweise am schwersten wiegt – sie haben die Jungwähler verloren. (…) In dieser Situation treten mit Nouripour und Lang, (…) mitnichten die Politiker zurück, die allein Verantwortung für den grünen Abschwung tragen.“
„Handelsblatt“: „Ein Grundproblem ist, dass den Grünen moderne Strukturen fehlen. Konsequent wäre es, wenn Habeck der alleinige Parteivorsitzende wäre, das lassen die Statuten aber nicht zu. Sie bestehen auf Quoten und Ämtertrennung. Die Fliehkräfte in der Ampelkoalition werden damit immer größer.“Kommentar Grüne15.30
„Allgemeine Zeitung“: „Die Ampel stirbt langsam. Die Rücktritte der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour mitsamt des ganzen Vorstands sind ein weiterer Schritt auf diesem Weg. (…) Die Grünen stehen in der Ampel-Koalition erstens für eine Außenpolitik, die laut Ministerin Annalena Baerbock wertegeleitet sein soll, wo Pragmatismus im eigenen Interesse oft besser ist. Vor allem aber stehen die Grünen für das Heizungsgesetz, von dem Historiker bestimmt einmal sagen werden, dass dieses mit seinen ursprünglich vorgesehenen massiven Eingriffen in privates Eigentum nicht nur die Koalition desavouiert hat, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Klimapolitik im Allgemeinen. Letzteres wird, wenn überhaupt, nur sehr, sehr langsam wiederherzustellen sein, das wird auch der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck wissen.“
„Münchner Merkur“: „Es fällt schwer, im Rücktritt des Vorstands etwas anderes zu sehen als den Anfang vom Ende der Regierung. Schneller als SPD und FDP haben die Grünen begriffen, dass das Urteil der Wähler im Osten ein unmissverständlicher demokratischer Imperativ war, der lautete: Abtreten, und zwar schnell. Das verdient Respekt.“
„Kölner Stadt-Anzeiger“: „Die gesamte deutsche Parteienlandschaft befindet sich im Umbruch. SPD, Grüne und Liberale stecken in einer existenziellen Krise. Die Union hat sich nach der Ära Merkel nur bedingt erneuert und kann von der Schwäche ihrer klassischen Konkurrenz nicht ausreichend profitieren. Derweil punktet die in Teilen rechtsextreme AfD bei den Jungwählern und gewinnt auch im Westen an Bedeutung. Und das BSW erweckt bislang nicht den Eindruck, als wolle es sich in die Reihe der staatstragenden Parteien stellen. Dass sich nach Wahlen Mehrheiten in der demokratischen Mitte finden lassen, ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Das ist die dramatische Botschaft dieser Tage.“
FS 40 Jahre Grüne im Bundestag
„Rheinpfalz“: „Das eigentliche Problem freilich ist ein ganz anderes. Und es hat nicht nur mit der deutschen Politik zu tun, sondern mit der gesamten (westlichen) Welt. Siehe Amerika. Siehe Ungarn. Siehe Frankreich. Das Pendel, das lange in Richtung liberaler, offener und bunter Politik zeigte, schlägt nun heftig nach der anderen Seite aus. Ins Autoritäre, Nationalistische. In Deutschland ist das besonders abzulesen am Aufstieg der AfD. Dabei wurde noch vor drei Jahren, bei der letzten Bundestagswahl, moniert, dass die Grünen sozusagen die Vorherrschaft im Diskurs übernommen hätten. Dass die anderen Parteien viel (zu viel) vom Programm der Grünen übernommen hätten. Doch davon ist nichts mehr übrig.“