Stress beeinflusst das Immunsystem im Darm stärker als vermutet. Forscher haben nun entschlüsselt, wie sich die daraus entstandenen Erkrankungen besser behandeln lassen.
Gehirn und Darm sind in ständigem Austausch, zum einen über zahllose Nervenverbindungen, zum anderen über Botenstoffe, an denen auch Nervenzellen beteiligt sind. Zum Beispiel Serotonin: Es spielt sowohl im Darm als auch im Zentralnervensystem eine Rolle und beeinflusst unter anderem die Darmbewegung, den Appetit oder das Schmerzempfinden.
Die Bakterien im Darm produzieren zudem Neurobotenstoffe, die sich auf Stimmung, Gefühlsleben und Verhalten auswirken könnten. Diese Kommunikation geht in beide Richtungen und hat große Auswirkungen auf viele Aspekte der Gesundheit.
STERN PAID Gesund leben 01_23 Dossier Immunsystem Stress 08.29Zum Beispiel gibt es Hinweise darauf, dass neurologische Krankheiten wie Parkinson ihren Ursprung im Darm haben könnten. Umgekehrt ist bekannt, dass psychischer Stress die Anzahl der nützlichen Bakterien im Darm verringert und damit die Immunität beeinträchtigt.
Bis zu 2000 Bakterienspezies besiedeln den Darm und verhindern unter anderem, dass Krankheitserreger in den Organismus eindringen. Etwa 70 Prozent der Immunzellen befinden sich im Darm und beeinflussen damit nicht nur die Darmgesundheit, sondern auch die Abwehrprozesse im ganzen Körper
Der Darm ist enorm wichtig für das Immunsystem
Wissenschaftler der Icahn School of Medicine at Mount Sinai (New York) und des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik (Tübingen) haben nun einen neuronalen Schaltkreis identifiziert, der belegt, wie Stress die Vielfalt im Darm beeinflusst. Eine wichtige Rolle spielen dabei die sogenannten Brunner-Drüsen im oberen Abschnitt des Dünndarms. Diese sondern Schleim ab, der die Darmwand auskleidet und als Substrat für das Wachstum nützlicher Darmbakterien dient.
Mäuse, denen die Brunner-Drüsen entfernt wurden, wiesen laut der Studie eine geringere Anzahl von Laktobazillen im Darm auf. Diese Bakteriengattung kommt im Dünndarm vieler Tiere, einschließlich des Menschen, normalerweise reichlich vor. Die Folge der reduzierten Bakterienzahl: Die Mäuse starben häufiger an Darminfektionen und zeigten verschiedene Anzeichen systemischer Entzündung wie Rheuma oder Autoimmunerkrankungen.
Darüber hinaus wiesen die Wissenschaftler nach, dass das Gehirn die Aktivität der Brunner-Drüsen über den Vagusnerv reguliert. Dieser Nerv steuert unwillkürlich viele Organsysteme im gesamten Körper und spielt eine Schlüsselrolle bei Ruhe und Entspannung. Er verbindet die Brunner-Drüsen mit der Amygdala, einem Gehirnareal, das für emotionale Reaktionen zuständig ist. Bei Furcht oder Ängstlichkeit reduziert die Amygdala ihre Aktivität und sendet weniger Signale an den Vagusnerv.
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Infolgedessen sondern die Brunner-Drüsen weniger Schleim ab, was wiederum die Immunität beeinträchtigt. Wurden die Mäuse chronischem Stress ausgesetzt, hatte dies die gleichen Auswirkungen auf die Zusammensetzung ihres Mikrobioms und ihre allgemeine Gesundheit wie die chirurgische Entfernung der Drüsen. „Wir haben herausgefunden, dass diese Drüsen sehr wichtig sind, um die Darmschleimhaut zu schützen und ein gesundes Mikrobiom aufzubauen“, sagt Ivan de Araujo vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
Mögliche Therapien für entzündliche Darmerkrankungen
Die Ergebnisse könnten erklären, warum psychosozialer Stress die Wahrscheinlichkeit einer Infektionserkrankung erhöht. Gleichzeitig bieten sie neue Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken: Die Stimulation der Amygdala oder alternativ des Vagusnervs der gestressten Mäuse genügte, um die Schleimsekretion zu normalisieren und die Auswirkungen des Stresses auf Darmmikrobiom und Immunität zu kompensieren. Die Gabe von Probiotika (lebende, nützliche Mikroorganismen) war ebenfalls ausreichend, um die negativen Folgen der psychischen Belastung wettzumachen.
Die Publikation verändere grundlegend das Verständnis der Beziehungen zwischen mentaler Verfassung, Darmgesundheit und Immunität, resümieren die Wissenschaftler. Indem sie einen konkreten Mechanismus aufzeigt, wie das Gehirn das Darmmikrobiom steuert, liefert sie eine Erklärung für den bereits gut belegten Zusammenhang von psychischen Störungen wie Angst und Depression einerseits und Magen-Darm- sowie Immunerkrankungen andererseits.
„Wir verfügen möglicherweise über einen Mechanismus, um bei Magen-Darm-Erkrankungen einzugreifen, die durch Stress verschlimmert werden, wie etwa entzündliche und Reizdarmerkrankungen“, sagt de Araujo. Die Stimulation der Drüsen oder der Nerven, die ihre Aktivität steuern, könne dazu beitragen, eine wieder normale Darmschleimhaut herzustellen, insbesondere während Krankheitsschüben.