Trotz Star-Darsteller Joachim Meyerhoff: Das „Theater des Jahres“ – das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg – eröffnet die neue Saison mit einem Fehlstart.
1990, kurz nach dem Ende des Realsozialismus in der DDR, stand im Deutschunterricht eines Gymnasiums einer westdeutschen Kleinstadt Bertolt Brecht auf dem Lehrplan. Unser Deutschlehrer, eher der Typ Anti-Kommunist, murrte beim Verteilen der Textbücher: „Ich weiß auch nicht, warum wir den heute noch lesen müssen.“
34 Jahre später wird die neue Saison im frisch gekürten „Theater des Jahres“ mit Brecht eröffnet: „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, in der Hauptrolle: der Bühnenstar und Bestseller-Autor Joachim Meyerhoff. Der Satz des Deutschlehrers klingt nach: Warum heute noch Brecht? Und wenn schon Brecht, dann wie? Immer noch mit Texttafeln, Moritaten und dem Durchbrechen der vierten Wand, also der Aufhebung der Grenze zum Publikum?
Es wird ein langer, wilder Abend, an dem genug Zeit bleibt, das herauszufinden.
Bertolt Brecht wartet in Finnland auf sein US-Visum
1940 ist Bertolt Brecht, der 1933 hastig Deutschland verlassen hatte, wenige Wochen, bevor die Nationalsozialisten sein Werk öffentlich verbrannten, nach langem Fluchtweg durch Europa in Finnland angekommen, wo er auf ein Visum wartet, das ihm 1941 endlich eine Weiterreise in die USA erlaubt. Brecht findet Unterschlupf auf einem Landgut, weit weg von allem, mit der Welt nur durch das Radio verbunden. Im Juni 1940 notiert er: „Seit die Nachrichten so schlecht werden, erwäge ich sogar, ob ich das Frühradio abstellen soll.“
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Brecht leidet: Der Kaffee geht aus, der Zucker wird knapp, Zigarren werden unerschwinglich – „alles und jedes zeigt die wachsende Macht des Dritten Reiches.“ Seine Gastgeberin muntert ihn auf und erzählt ihm abends von einem Gutsbesitzer, der eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde zu sein scheint: betrunken ein herzensguter Mensch, nüchtern ein Schinder. Manche kennen das von Betriebspartys: Der Chef, der sich gestern Abend nach vielen Gläsern Wein noch verbrüdern wollte, poltert am nächsten Morgen mit besonders fiesen Schikanen durch die Firma.
Was hat uns Brecht heute noch zu erzählen?
Aus dieser Geschichte erwuchs eines der erfolgreichsten Stücke von Brecht, uraufgeführt 1948 in Zürich, bald danach schon ein Hit auch auf den deutschen Nachkriegsbühnen. Nur: Was hat uns Brecht heute noch zu erzählen? Was nähme eine Schulklasse, die in diese Aufführung geschickt würde, daraus mit?
Es kracht und scheppert bis zum Umfallen: Kristof Van Boven und Jochim Meyerhoff.
© Katrin Ribbe
Es ist ein Hit-Theater, das hier auf die Bühne gebracht werden soll: Star-Schauspieler (neben Meyerhoff treten etwa auf Lilith Stangenberg als Puntilas Tochter Eva sowie Michael Wittenborn, gerade noch im ZDF in „Merz gegen Merz: Geheimnisse“ zu sehen, hier in mehreren Kleinrollen, immer mit den Lachern auf seiner Seite). Inszeniert von Karin Beier, der Chefin des Hauses, verantwortlich für die Megaerfolge der vergangenen Jahre. Nur Lina Beckmann fehlt; sie sitzt immerhin im Publikum. Riesenbühne, wie die größte Leinwand im örtlichen Multiplexkino. Stückdauer: mehr als drei Stunden, so lang wie ein Marvel-Kracher. Und? Es kracht und scheppert viel in dieser Inszenierung. Trotzdem fällt der Schlussapplaus eher höflich aus.
Joachim Meyerhoff landet kopfüber in der Punschschüssel
Von vorne: Als sich der Vorhang hebt, hat das Unheil offenbar schon stattgefunden. Die Bühne sieht aus wie eine Unterführung am Hauptbahnhof an einem später Samstagabend, voller Unrat und Abfall. Der Gutsbesitzer Puntila schreitet durch den Müll wie ein Allmächtiger, ein Sklavenhalter, für den der neue Chauffeur, der Matti, immerhin schon fünf Wochen bei ihm, eher wie ein Stück Vieh ist, das er interessiert betrachtet.
Die Boss mit Karin Beier 17.17
Gutbesitzer: So etwas kennen wir heute eher aus dem Fernsehen, etwa aus der Serie „Yellowstone“, Kevin Costner spielt da auch so einen Alleinherrscher über die Weide. Puntila hat eine Tochter, ihren Namen „Eva“ hat er sich über die Lende tätowieren lassen. Der starke Mann hat eine große Schwäche: Er säuft. Wie ein Loch. Die Mengen an Flüssigkeit, die Meyerhoff an diesem Abend in sich hineinschütten muss, sind beträchtlich. Einmal landet er kopfüber in der Punschschüssel. Das sorgt für Gelächter und Fröhlichkeit, aber mal etwas spielverderbernd gefragt: Ist das heute noch okay, dass man aus Alkoholismus solch einen Klamauk macht?
Crossdressing, Nackte, Drehbühne
Meyerhoff wirft manchmal einen weißen Pelzmantel über seinen schwarzen Anzug, dann sieht er aus wie einer der Barbaren aus „Asterix bei den Goten“. Dazu wurde ihm ein Metal-Bärtchen ins Gesicht geklebt, das entfernt an Lemmy Kilmister denken lässt, einen weiteren Alkohol-Großvernichter. Über seine Tochter sagt Puntila, sie sei eine wohlstandsverwahrloste Göre; dabei habe er sie extra auf die Waldorf-Schule nach Brüssel geschickt.
Verkeilte Rollen: Joachim Meyerhoff als Herr Puntila und Kristof Van Boven als sein Knecht Matti
© Katrin Ribbe
Der Gutsherr hat 90 Kühe, aber keine Frau, so verlobt er sich im Suff gleich viermal. Nüchtern bzw. verkatert verlangt er von den Damen allesamt den Verlobungsring zurück. Als er seinen Chauffeur Matti zum Saunabesuch einlädt, kommt es vorher zum Schwanzvergleich. Der geht offenbar ungünstig für Puntila aus.
Die Regisseurin Beier spielt ihre Greatest Hits-Platte: Männer schlüpfen in Frauenrollen (alle vier Verlobte werden von Personen gespielt, die als männlich gelesen werden können). Männer und Frauen ziehen sich aus: Eva und Matti (Kristof Van Boven) sind lange splitterfasernackt, als sie ins Badehaus ziehen. Auch die Drehscheibe kreiselt munter von Szene zu Szene. Crossdressing, Nackte, Drehbühne: Wer schon ein paarmal im Schauspielhaus war in den vergangenen Jahren, fühlt sich da sofort heimisch.
Meyerhoff spricht direkt mit dem Publikum
Bester Moment: Meyerhoff zerbricht für ein paar Minuten tatsächlich die vierte Wand, redet direkt mit dem Publikum. Sein Puntila will wissen, ob Millionäre unter den Zuschauern säßen. Der Herr da vorne, ja, der mit der Understatement-Brille, der könnte einer sein, oder? Der Herr schweigt, was Meyerhoff/Puntila als Bestätigung empfindet. Und jetzt: Wer ist Arbeiter hier? (Die ersten Reihen des Premierenpublikums sind in etwa so proletarisch besetzt wie der Rotary Club.) Er will die Hände sehen, daran erkenne man einen Arbeiter. Frage in die erste Reihe: „Haben Sie vielleicht Lust, sich für mich totzuarbeiten?“
Im Folgenden geht es darum, Puntilas Tochter Eva zu verheiraten. Den Attaché, der eigentlich auserwählt war, will der Gutsherr nicht mehr, der sei eine Heuschrecke. Der Matti, sein Diener, der sei doch ein ganzer Kerl. Aber Matti will keine Frau, die in Brüssel zu Waldorf-Schule gegangen ist, sondern eine, die den Haushalt schmeißt und ansonsten Ruhe gibt, wenn er abends nach Hause kommt. Die verschmähte Eva reagiert mit einem Fressflash und stopft sich dutzende von Heringen ins Maul. Minutenlang mampft und spuckt sie. Aus Brecht wird hier Erbrochenes. Und Puntila trinkt weiter.
Das Spiel kippt in einen Ekel-Reigen
Die Szenen, besonders jene nach der Pause, wirken wie lose aneinandergeheftet. Immer wenn Meyerhoff losrocken darf, wird ein Spaß daraus, aber der Krawall wirkt zunehmend monoton. Das Spiel kippt in einen Reigen des Ekels.
Am Ende herrschen Delirium und Dunkelheit.
Wer große Schauspieler in tollen Einzelmomenten erleben will, ist bei diesem Puntila gut aufgehoben. Wer herausfinden will, warum das Schauspielhaus zum „Theater des Jahres“ gekürt wurde, sollte besser einen der fünf „Anthropolis“-Teile wählen, in denen uralte Stoffe auf frischmöglichste Weise inszeniert wurden. Und Brecht? Hat großartige Gedichte geschrieben.