Man hört es immer noch: Hitler hat die Autobahn erfunden. Falsch. In Italien ging schon lange vor der Machtergreifung der Nazis die erste Autostrada der Welt in Betrieb. Jetzt wird sie 100.
Es ist wie so oft auf ausländischen Autobahnen an der Mautstation. Wieder einmal fehlen die entscheidenden Zentimeter bis zum Lesegerät. Dann funktioniert die deutsche Karte nicht, warum auch immer, und schon fängt der Hintermann an zu drängeln.
Wie schön muss das hier, an den oberitalienischen Seen, vor einem Jahrhundert gewesen sein. Als Besitzer eines Autos war man fast noch unter sich. Gezahlt wurde nicht am Automaten, sondern in der Raststätte, in bar. Und an der Schranke stand ein Wärter in Uniform, der freundlich salutierte.
Vor 100 Jahren, am 21. September 1924, wurde hier, zwischen der Großstadt Mailand und dem 50 Kilometer weiter nördlich gelegenen Varese die erste echte Autobahn der Welt in Betrieb genommen. Oder vielmehr: die erste Autostrada. Denn die bis heute immer wieder gehörte Behauptung, dass Adolf Hitler die Autobahn erfunden habe, ist ausgesprochener Blödsinn. Auf Neudeutsch: Fake News, der ganz alten Art.
Auf Italiens Straßen nur 57.000 Pkw – heute mehr als 40 Millionen
Tatsächlich kam die Idee von dem Unternehmer Piero Puricelli, der auch die legendäre Rennstrecke von Monza baute und später zum Grafen geadelt wurde. Der Ingenieur gründete 1921 ein Unternehmen namens Società Anonima Autostrade, eine Art italienische Autobahn GmbH. Das Prinzip: eine gebührenpflichtige Straße nur für den Schnellverkehr – also ohne Hindernisse wie Kreuzungen, Fuhrwerke, Kutschen, Fahrräder oder Fußgänger. Das war tatsächlich eine sehr futuristische Idee. Auf Italiens Straßen waren seinerzeit noch kaum Pkw unterwegs: 57.000. Zum Vergleich: Heute sind mehr als 40 Millionen.
Seinerzeit hielten die meisten Leute wenig davon, mobil zu sein. Lieber blieb man in seiner gewohnten Umgebung. Wer längere Strecken zurücklegen wollte oder musste, nahm die Bahn. Auf den oft noch unasphaltierten Straßen über Land waren vor allem Pferdekarren unterwegs. Insofern war das erste Teilstück der späteren Autostrada dei Laghi (Autobahn der Seen), noch später die A8, ein sehr gewagtes Unternehmen.
„Eine Fahrt auf Beton glatt wie Parkett“
Trotzdem kam Prominenz: Die erste Fahrt unternahm in einem Fahrzeug der bis heute existierenden Marke Lancia der damalige König Vittorio Emanuele III.. Der Monarch durchschnitt auch das Band, sechs Soldaten standen Spalier. Die Tageszeitung „La Tribuna di Roma“ vermerkte anerkennend: „Eine höchst attraktive Fahrt auf einem Beton glatt wie Parkett. Ohne tückische Rinnen oder Radfahrer oder Ähnliches, die man ins Jenseits schicken könnte …“ In Deutschland wurde darüber auch berichtet: aber nicht über eine Autobahn, sondern über eine „Nur-Autostraße“.
Anfangs gingen die Italiener von täglich 1.000 Autos auf der Strecke aus. Es waren aber nur selten mehr als einige Dutzend – was auch daran gelegen haben mag, dass die Autostrada nachts geschlossen war. 1925 wurde der nächste Abschnitt eröffnet, bis nach Como an den gleichnamigen See. Heute ist das die auch von Touristen vielbefahrene A9.
Erste deutsche Autobahn zwischen Köln und Bonn im August 1932
Bei der Gelegenheit: Hitler saß zu jener Zeit in Bayern im Gefängnis, verurteilt zu fünf Jahren, wegen eines Putschversuchs im November 1923. Von Autobahnen war bei ihm erst 1933 die Rede: Nach der Machtergreifung veröffentlichte er ein Programm zum Bau vierspuriger „Straßen des Führers“ quer durch Deutschland. Verschwiegen wurde, dass die Pläne aus den 1920er Jahren stammten. Das erste Teilstück einer „kreuzungsfreien Kraftfahr-Straße“ wurde auch schon im August 1932 freigegeben, zwischen Köln und Bonn, heute die A555.
Übrigens gab es seinerzeit eine gewisse Konkurrenz zwischen den Faschisten in Berlin und Rom. Italiens Diktator Benito Mussolini, seit 1922 an der Macht, jubelte zur Eröffnung von Mailand-Varese: „Die Autobahnen sind eine großartige italienische Errungenschaft, und ein sehr konkretes Zeichen unseres Ingenieurgeistes – den Söhnen des alten Roms nicht unwürdig.“
Rennstrecken auch schon früher in USA und Deutschland
Der Kulturhistoriker Conrad Kunze („Deutschland als Autobahn“) sieht das heute anders. Aus seiner Sicht war Mussolini bei Geld und Propaganda Hitler deutlich unterlegen. „Worin sich beide ähnelten, war die versuchte Monumentalisierung der Straße als großes historisches Werk“, so der Wissenschaftler aus Berlin. „Nur dass die deutsche Variante wesentlich größer, teurer, tödlicher, schneller und berühmter wurde – wie eben im Dritten Reich alles mehrere Nummern größer ausfiel als in Italien.“
Der Vollständigkeit halber: Es gibt auch Experten, die die Autobahn für noch älter halten. In New York gab es schon seit 1908 den Long Island Motor Parkway, der allerdings nahezu ausschließlich als Rennstrecke genutzt wurde – ein teurer Luxus für reiche Dandys. In Berlin wurde 1921 die Avus (Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße) eingeweiht, auch sie vor allem für Gutbetuchte: Die Vierteljahreskarte kostete enorme 1000 Mark. Mit der heutigen Autobahn – eine öffentliche Straße nur für den motorisierten Verkehr, um schnell von A nach B zu kommen – hatte beides wenig zu tun.
Vor allem hatte man in Italien damals schon die Idee, ein weit verbreitetes Netz an Autobahnen aufzubauen. Die erste Autostrada war dann auch nicht billig, aber insgesamt lagen die Preise doch deutlich niedriger: zwischen 9 und 60 Lire, je nach Größe des Gefährts. Heute kostet die einfache Strecke für Pkw einheitlich 3,80 Euro. An diesem Samstag jedoch ist die Fahrt gratis. Zur Feier des Tages werden Autos aus 100 Jahren unterwegs sein.