Künstliche Intelligenz als Diagnose-Hilfe, Patienten-App und Telemedizin: Mediziner Ludger Killich will die Versorgung von Patienten revolutionieren. Der erste Test ist vielversprechend.
Dass meine Nase läuft, der Kopf schmerzt und mir übel ist, eröffne ich als erstes einer KI. Gleich nachdem ich online einen Termin mit Hausarzt Ludger Killich gemacht habe, fordert sie mich auf, ihr all meine Beschwerden zu schildern. Die Regeln sind einfach: Ich schreibe – und sie fragt freundlich nach. Bin ich schnellatmig? Habe ich Schmerzen oder Schüttelfrost? Und wie stark ist das Dröhnen in meinem Kopf? Sogar für die Farbe meines Schnodders interessiert sich die künstliche Intelligenz. Das ganze Frage-Antwort-Spiel dauert ein paar Minuten. Dann weiß sie anscheinend genug.
Meine Antworten schickt sie direkt an den Arzt zusammen mit ihrer Einschätzung, dass ich mit einer Wahrscheinlichkeit von 47.42 Prozent an einer bakteriellen Nasennebenhöhlenentzündung leide. Weitere Möglichkeiten für meine Symptome sind laut Killichs KI unter anderem eine virale Nasennebenhöhlenentzündung, eine Infektion mit Adenoviren, eine Mandelentzündung oder eine Mittelohrentzündung. Sieht so die Zukunft der Medizin aus?
Künstliche Intelligenz ist ein wertvoller Mitdenker
Ich muss gestehen, meine Symptome waren allesamt erdacht, und von den Überlegungen der KI erfahre ich nur, weil Dr. Killich mir zeigt, was sie ihm prognostiziert hat. Die Flunkerei hat einen Grund: Ich möchte herausfinden, wie intelligente Algorithmen die Versorgung beim Hausarzt verbessern können. Das hybride Versorgungszentrum „i.Med MVZ“, das Killich vor einem halben Jahr im nordrhein-westfälischen Halle zusammen mit einem Partner aufgebaut hat, fühlt sich für mich tatsächlich ein wenig an wie ein Blick in eine Glaskugel.
Hausarzt Ludger Killich setzt in seinem MVZ in Halle mit dem KI-Symptomchecker, Patienten-App und Telemedizin voll auf digitale Prozesse
© privat
Dabei geht es hier nicht darum, dass eine KI Ärzte ersetzt. „Die KI kann mir nicht die Diagnosestellung abnehmen.“ Die Vorab-Anamnese der KI enthalte aber wichtige Informationen, mit denen er entscheiden könne, ob ein Patient für bestimmte Untersuchungen in die Praxis kommen sollte oder ob er ihn nach einem persönlichen Gespräch direkt zum Facharzt oder sogar in die Klinik überweisen müsse. Die KI ist wie ein Mitdenker. Das gesamte Wissen der Medizin im Hinterkopf, kann sie ihn daran erinnern, dass es sich bei einigen Symptomkombinationen mit vielleicht fünfprozentiger Wahrscheinlichkeit auch um eine seltene Krankheit handeln könnte.
Die Ergebnisse der Blutdruckmessung kommen gleich in die App
In den meisten Fällen aber geht es um Entwarnung. „Die ist genauso wichtig“, sagt Killich: „Ein Drittel der Patientinnen und Patienten müssen so gar nicht mehr in die Praxis kommen, weil ich mit ihnen auch in einem Videotermin besprechen kann, was sich bei einem einfachen Infekt machen lässt.“ Auch die Gespräche vor Ort seien jetzt sehr viel fokussierter, wenn der Patient nicht erst einmal bei Null anfangen müsse.
Die Boss mit Katharina Zweig9.54
Neue Technologien wie diese sparen also auch Zeit – dem Patienten, dem Arzt und seinen Mitarbeitern. Das gleiche gilt für Killichs Telefonassistenten, der die Anliegen der Anrufer vorab sortiert. Rezeptwunsch? Wird digital verschickt. Neuer Termin? Kommt gleich per Mail. „Mich hat schon immer interessiert, wie Digitalisierung Arbeitsprozesse und -strukturen erleichtern und verbessern kann“, sagt Killich. „Deswegen haben wir auch eine App, in der Patienten selbstständig Daten wie zu Blutzucker- oder Blutdruckmessungen eingeben können, Teile ihrer Patientenakte einsehen oder mit unserem Praxispersonal chatten können.“
Das Konzept der Praxis könnte auch eine der dringend benötigten Lösungen für ländliche Gebiete sein. Aktuell sind über 5000 Hausarztsitze in Deutschland unbesetzt. „Für viele bestehende Praxen fehlen Nachfolger“, sagt Killich. „Mit einem Angebot wie der Videosprechstunde kann ich mich auch um Patienten kümmern, die weiter weg wohnen. Meine Mitarbeiter können einige Aufgaben im Homeoffice erledigen und freier über ihre Termine entscheiden, weil sie auch abends um acht eine Videosprechstunde anbieten könnten.“
Richtig eingesetzt könnte KI die Gesundheitsergebnisse um bis zu 40 Prozent verbessern
Ich denke an meine Hausarztpraxis im Hamburger Schanzenviertel.
Vor ein paar Wochen erst stand ich in der Schlange vor dem Anmeldetresen und konnte dabei zusehen, wie die Überforderung der Medizinischen Angestellten wuchs. Zettel mit Notizen wurden gesucht, Rezepte landeten unauffindbar zwischen dicken Stapeln, während im Hintergrund das Telefon so penetrant klingelte, dass man sich wünschte, jemand würde endlich abnehmen, selbst wenn man dann noch länger anstehen würde. Vielleicht war das ein Notfall gewesen.
Wie viel besser könnte man all diesen Patienten mit etwas technischer Unterstützung gerecht werden? Warum muss man heute noch mit einer Erkältung stundenlang in einem vollen Wartezimmer sitzen? Und muss eine Ärztin wirklich alles selbst machen? In Killichs Praxis zum Beispiel nimmt ihm eine ausgebildete Versorgungsassistentin einen Teil der Hausbesuche ab. Digital aufgerüstet, mit EKG-Gerät unterwegs, kann sie sogar mobil erste Blutwerte ermitteln und sich bei Bedarf übers Tablet mit dem Arzt in Verbindung setzen – Telemedizin nennt sich das.
Die angesehene Harvard-Universität schätzt, dass allein KI, wenn sie richtig eingesetzt wird, die Gesundheitsergebnisse um bis zu 40 Prozent verbessern und die Behandlungskosten um bis zu 50 Prozent senken kann.
Schon heute können die digitalen Augen einer KI einem Röntgen-Scan weit mehr Informationen entnehmen als menschliche Experten. Sie errechnen aus Blutwerten die Wahrscheinlichkeit für eine Sepsis oft besser und unterscheiden sicher zwischen ungewöhnlichen Muttermalen und Hautkrebs. Vor wenigen Wochen zeigte erstmals eine klinische Studie im direkten Vergleich: Die Wahrscheinlichkeit, zu versterben, war für Patienten kleiner, wenn eine KI den Arzt nach auffälligen EKG-Mustern warnte.
Ärzte braucht es auch weiterhin
Ärzte braucht es auch weiterhin, allein schon um die Informationen der KI einzuordnen. Denn die beste Behandlung hängt nicht nur von den gemessenen Blutwerten ab, sondern auch von der Gesamtsituation: Hat die ältere Patientin zu Hause Hilfe? Ist der Patient psychisch stabil? Welche Schlüsse lassen sich aus seiner früheren Krankengeschichte ziehen? All diese Dinge weiß im besten Fall der Hausarzt über seine Patienten, die KI aber nicht. Dazu kommt noch eine ganz andere ärztliche Qualität: Das aufmunternde Wort, das offene Ohr oder die Hand auf dem Arm. Man weiß aus unzähligen Studien, wie wichtig auch diese Faktoren für den Behandlungserfolg sind.
So warnt der deutsche Ethikrat: Der Einsatz von KI dürfe nicht zu einer weiteren Abwertung der sprechenden Medizin oder zu Personalabbau führen. „Eine vollständige Ersetzung der ärztlichen Fachkraft durch ein KI-System gefährdet das Patientenwohl.“
Die ideale Kombination zu finden, aus menschlicher Erfahrung und intelligenter, technischer Unterstützung wird in Zukunft eine der wichtigsten Aufgaben der Medizin sein.
Ob auch mein Hausarzt die neuen Möglichkeiten nutzen wird? Kürzlich fragte die Stiftung Gesundheit rund 500 niedergelassene Ärzte, was sie von der Entwicklung KI-gestützter Anlaufstellen zur Ersteinschätzung halten. Rund 21 Prozent hielten das für sinnvoll und umsetzbar. Fast 40 Prozent dagegen überhaupt nicht. Ich kann mir vorstellen, zu welcher Gruppe mein Arzt gehört – zur zweiten. Wie schade.
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