Kiebitze, Regenwälder, Korallenriffe: Die Artenvielfalt lässt sich mit den meisten Naturschutzmaßnahmen erhalten – oder sogar steigern. Warum es trotzdem mit der Biodiversität bergab geht und was jetzt gebraucht wird.
Ob der Regenwald im Amazonasbecken geschützt wird oder der Kiebitz auf europäischen Äckern: Die meisten Naturschutzmaßnahmen weltweit wirken sich tatsächlich positiv auf die Artenvielfalt aus. Allerdings reichen die Bemühungen bisher bei Weitem nicht aus. Das ist das Ergebnis einer Übersichtsstudie, die in der renommierten Fachzeitschrift „Science“ erschienen ist. Dazu wertete ein internationales Forscherteam unter Federführung der Biologin Penny Langhammer von der Arizona State University mehr als 180 Studien aus 42 Ländern aus.
Der umfassende und zugleich globale Ansatz der Analyse ist – verblüffenderweise – fast ein Novum: Die meisten anderen Studien untersuchten bislang eher, wie konkrete Naturschutzmaßnahmen sich auf regionale Tier- und Pflanzengemeinschaften auswirkten, etwa auf einige Moore, Wälder, ein Korallenriff oder eine Agrar-Landschaft. Denn die Feldarbeit in Ökosystemen, das Sammeln und Bestimmen von Tieren und Pflanzen – und das auch noch über Jahre – ist extrem aufwendig.
Nachhaltigkeitswoche 2024 KastenUm den Nutzen von Naturschutz realistisch einschätzen zu können, braucht es Untersuchungen, die vergleichen, was passiert, wenn ein Areal aktiv geschützt wird und man in einem anderen Gebiet die Zerstörung einfach weiterlaufen lässt. Man könnte auch sagen: Placebo-Studien für die Natur, in denen eine potenziell wirksame „Behandlung“ verglichen wird mit wirkungslosem Nichtstun.
Placebo-Studien für die Natur
PAID Artenschutz im Amazonas 14.00
Für die neue Untersuchung analysierten die Forschenden nun erstmals viele verschiedene Typen von Naturschutz: klassische Schutzgebiete ebenso wie politische Maßnahmen, um die Verwüstung der Natur zu verhindern, außerdem die Renaturierung bereits zerstörter Flächen und Gewässer, die schonende Nutzung von Tieren durch kontrollierte Jagd oder die nachhaltige Bewirtschaftung durch die Landwirtschaft. Außerdem nahmen die Forschenden die Eindämmung von Schadstoffen, den Kampf gegen invasive Arten und die Anpassung an den Klimawandel unter die Lupe.
Artenvielfalt: Die Regierungen der Welt suchen nach Lösungen
Heraus kam ein riesiges Datenpaket, das nun viele Wissenslücken schließen soll. Was gerade jetzt bitter nötig ist, denn die Biodiversitätskrise gilt als eines der globalen Schlüsselprobleme. Zurzeit suchen die Regierungen der Welt nach Lösungen, wie sie die international vereinbarten Ziele zum Schutz der Artenvielfalt erreichen können. Bereits jetzt werden weltweit jährlich 121 Milliarden US-Dollar für den Naturschutz ausgegeben – während gleichzeitig scheinbar unaufhaltsam Tier- und Pflanzenarten aussterben.
„Nachdem sich zuletzt auf der Montreal-Konferenz im Dezember 2022 die internationale Gemeinschaft zum Erhalt der Biodiversität verpflichtet hat, brauchen Regierungen robuste Daten über die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen, idealerweise im Vergleich miteinander und mit globaler Perspektive“, sagt Matthias Glaubrecht, Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg. „Diese liefert nun die aktuelle Studie – meines Wissens erstmals derart umfassend, unter Auswertung von rund 180 Einzelstudien und im Rückblick über den Zeitraum der vergangenen mehr als 100 Jahre.“ Glaubrecht selbst war an der Großanalyse nicht beteiligt, sondern ordnete sie gerade in einem Presse-Briefing zusammen mit anderen unabhängigen Wissenschaftlern für das deutsche Science Media Center in Köln ein.
Zwei Drittel der Naturschutz-Ansätze wirken
Laut der neuen Science-Veröffentlichung wirkten sich zwei Drittel der betrachteten Naturschutz-Ansätze deutlich positiver auf die Artenvielfalt aus als der Ansatz, die Ökosysteme einfach zu nutzen wie gehabt. Rund 20 Prozent wirkten zumindest bewahrend und bremsten den Rückgang der Artenvielfalt spürbar, etwa die großen Schutzgebiete im Amazonas und die Areale, die dort von Indigenen bewirtschaftet werden. 45 Prozent der untersuchten Naturschutz-Aktivitäten konnten die Biodiversität in einem Gebiet sogar erhöhen: Zu den effektivsten Maßnahmen zählen dabei ausgerechnet Naturschutzbemühungen in der Landwirtschaft, die bei Bauern oft unbeliebt sind – weil sie ihnen vermeintlich Fläche rauben: So erhöhen zum Beispiel Brutinseln in Äckern – geschützte „Löcher“, in denen kein Getreide gesät wird – nachweislich die Zahl von Vögeln, die am Boden brüten. Dazu gehört in Deutschland etwa der Kiebitz, der inzwischen so massiv bedroht ist, dass er 2024 sogar zum „Vogel des Jahres“ gekürt wurde.
Mehr als ein Fünftel der Naturschutzmaßnahmen erwies sich allerdings als kontraproduktiv: Zu den sinnlosesten Maßnahmen zählte etwa der Versuch, invasive Algen aus Korallenriffen vor Indiens Küste zu reißen – was sogar den gegenteiligen Effekt hatte, dass sich die unerwünschten Wasserpflanzen noch weiter ausbreiteten. Heimische Algen und Korallen hingegen siechten dahin.
Seepferdchen profitierten – aber auch ihre Räuber
Bei zehn Prozent der erforschten Naturschutzeingriffe wiederum konnten die Forschenden zwar Positiveffekte nachwiesen – doch ein „Laufenlassen wie bisher“ schnitt noch besser ab: So vermehrten sich etwa in Meeresschutzgebieten vor Australien zwar die seltenen Seepferdchen, aber leider auch Seepferdchen-fressende Raubfische und Oktopusse, sodass ein Befischen der marinen Areale in diesem Fall besser abschnitt.
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Unterm Strich jedoch liefert die neue Studie ermutigende Belege: „Wir sehen, dass Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität in den meisten Fällen wirken“, resümieren die Autorinnen und Autoren. „Unsere Meta-Analyse zeigt, dass der Effekt von Naturschutz unterm Strich positiv und signifikant ist.“ Und sogar das vergebliche Algenausreißen vor Indien scheint – buchstäblich – ein Ausreißer: Gerade die Bekämpfung invasiver Tier- und Pflanzenarten gehört zu den effektivsten Maßnahmen überhaupt, um gefährdete Tiere und Pflanzen zu retten – vor allem auf Inseln, deren Artenvielfalt etwa von eingeschleppten Ratten oder Katzen bedroht wurde. Als ebenfalls gut wirksam erwiesen sich der Kampf gegen die Zerstörung von Flächen, die nachhaltige Nutzung von Ökosystemen und – ganz klassisch: die Ausweisung von Schutzgebieten.
Einige Fragen beantwortet auch die neue Großstudie nicht: So liegen bislang nur wenig Daten dazu vor, wie gut Klimaschutzmaßnahmen oder weniger Schadstoffe in der Umwelt bestimmte Tier- und Pflanzenarten schützen. Auch der Kontinent Afrika und viele Inselstaaten sind in Sachen Biodiversität bisher vergleichsweise wenig erforscht.
Bis zu 500 Milliarden Dollar für den Naturschutz
Doch das Hauptproblem im globalen Naturschutz ist nicht die Datenlage, sondern – auch der neuen Forschungsarbeit zufolge – die Umsetzung: Dass viele Maßnahmen im kleineren, lokalen Maßstab effektiv sind, kann als belegt gelten. Aber es reicht eben nicht, um das globale Sterben der Arten aufzuhalten, erst recht nicht, um den negativen Trend umzukehren.
Das sehen auch unabhängige Experten so und fordern mehr Engagement von der Politik: „Die schlimmste Folgerung, die Entscheidungsträger oder die Gesellschaft aus dieser Arbeit ziehen sollten, wäre: ‚Es wird schon gut, die Maßnahmen wirken ja‘. Dies würde vom Ausmaß der tatsächlich existierenden Probleme ablenken und unter Umständen dringend benötigte erhöhte Ressourcen vom Naturschutz abziehen“, sagt Sven Bacher, Leiter der Arbeitsgruppe Angewandte Ökologie an der Universität Freiburg in der Schweiz. Auch Bacher ist einer der Expertinnen und Experten, die die aktuelle Studie gerade für das „Science Media Center“ bewertet haben. „Wir brauchen Naturschutz in einem viel größerem Ausmaß“, so Bacher weiter. „Oder besser noch: Wir sollten verhindern, dass die fünf globalen Triebkräfte des Verlustes – invasive Arten, Klimawandel, Land- und Seenutzungsänderungen, Verschmutzung, Übernutzung – die Biodiversität weiter reduzieren. Also mehr Prävention, damit weniger Restauration, Anpassungen oder Kontrolle nötig sind.“
Das Science-Studien-Team nennt dazu konkrete Zahlen: Wollte man im globalen Maßstab die Naturschutzmaßnahmen hochfahren, um deutlich mehr zu leisten als nur die wertvollsten Gebiete und die allerseltensten Arten zu retten, könnte das bis zu 500 Milliarden US-Dollar im Jahr kosten. Was sich jedoch als Investment mehr als lohnen würde, so die Forscher – angesichts der immensen Vorteile durch eine reiche Artenvielfalt. Hier gibt es viele Beispiele zu nennen, von der Bestäubung von Kulturpflanzen über die Wasserspeicherung der Wälder bis hin zum noch unerforschten Potenzial vieler Pflanzenarten für die Medizin.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien erstmals im April 2024.