Viele Eltern halten ihre Kinder für intelligenter, als sie tatsächlich sind, sagt die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern im stern-Podcast „Die Boss“. Doch ob ein Kind das Zeug hat, Abitur zu machen, entscheiden auch andere Kompetenzen.
Immer mehr Eltern schicken ihr Kind aufs Gymnasium und halten es tendenziell für intelligenter und begabter, als es ist: Nur zwei von 100 Kindern sind tatsächlich hochbegabt. Trotzdem soll es dem Kind später an nichts mangeln – und da die Anforderungen an Berufe stetig wachsen, soll es nach Möglichkeit Abitur machen.
Welche Anforderungen für den Übertritt aufs Gymnasium gestellt werden, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In manchen ist die Schulempfehlung der Lehrerinnen und Lehrer bindend. In anderen Bundesländern sind es die Eltern, die das letzte Wort haben. Ausschlaggebend für eine Empfehlung ist nicht nur die schulische Leistung des Kindes. Auch die Lernentwicklung während der Grundschulzeit spielt eine Rolle.
Um im Sinne des Kindes die richtige Schulform zu wählen, sollten Eltern Folgendes beachten:
Frage 1: Ehrlich – welches Arbeitsverhalten und welche Leistung zeigt mein Kind?
Mit dem Abitur scheint das Kind die vielfältigsten Berufschancen zu haben. Trotzdem gilt es, sich nicht in Optimierungsschleifen zu verlieren. Schulpsychologe Klaus Seifried aus Berlin sagt: „Viele Eltern schauen gerade auf die Schwächen ihrer Kinder und stellen fest: Dies muss sich noch ändern und das. Das setzt sie unter Druck.“ Der stellvertretende Vorsitzende der Sektion Schulpsychologie vom Berufsverband Deutscher Psychologen empfiehlt, das Kind nicht sofort zur Nachhilfe zu schicken, sondern erst einmal zu schauen: In welchen Bereichen liegen die Stärken und Begabungen meines Kindes? Welche Leistungen sind gleichbleibend gut? In welchen Bereichen ist mein Kind schlicht faul und wo kämpft es und kommt trotzdem an seine Grenzen? Sein Kind in seiner gesamten Persönlichkeit wahrnehmen zu können setzt voraus, die eigenen Erwartungen zu reflektieren. Was wünsche ich mir für mein Kind und warum? Welche eigenen Erfahrungen beeinflussen meine Haltung?
Oftmals sähen die Eltern das Arbeitsverhalten und die Leistung ihres Kindes nicht, hat auch Grundschullehrerin Stefanie Wölfle beobachtet. Ein klarer Blick setzt voraus, dass Eltern sich selbst sortieren, bevor sie gemeinsam mit dem Kind Zukunftspläne schmieden.
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Frage 2: Übernimmt mein Kind Verantwortung?
Ob ein Kind in der Lage ist, aufs Gymnasium zu wechseln, hängt nicht nur mit seiner Intelligenz zusammen, sondern auch mit seiner Fähigkeit zur Selbstregulation: Kann es Verantwortung übernehmen? Aufgaben und Pflichten wahrnehmen? Das beginne beim Packen der Schultasche, sagt Klaus Seifried, und ende beim selbstständigen Erledigen der Hausaufgaben. „Wer das nicht kann, wird es schwer haben auf dem Gymnasium, weil die kognitiven Anforderungen höher sein werden und auch die Konkurrenz unter den Kindern größer ist.“
Auf dem Gymnasium müssen Kinder eigenständig lernen, und darin sieht die Grundschullehrerin Stefanie Wölfle in Bayern die vielleicht größte Herausforderung: Sie beobachtet, dass Kindern viel von den Eltern abgenommen wird und sie infolgedessen immer unselbstständiger auf schulische Anforderungen reagieren. „Neben den kognitiven Fähigkeiten müssen sich die Kinder auf dem Gymnasium ein Stück weit selbst strukturieren können und im Blick haben, wann sie zum Beispiel ein Referat halten, wann eine Klassenarbeit ansteht“, sagt Stefanie Wölfle.
Frage 3: Was will mein Kind eigentlich?
Damit Eltern ein Gespür für ihr Kind entwickeln können, sollten sie sich mit ihm austauschen: Was möchte es, auf welcher Schule sieht es sich? Klaus Seifried hat beobachtet, dass manche Schülerinnen und Schüler erst nach der Pubertät Lernmotivation entwickeln. In solchen Fällen empfiehlt er, über den Besuch einer Gesamtschule nachzudenken, auf der das Abitur nach 13 Jahren abgelegt werden kann.
Liebevoll, aber hartnäckig sollten Eltern Anteil nehmen an dem, was das Kind beschäftigt. „Es kann sein, dass das Kind erst mal einsilbig auf Nachfragen reagiert, aber vielleicht erzählt es später am Tag doch noch etwas. Oder auf dem Weg zum Fußballtraining“, sagt Klaus Seifried. Es gilt also, Zeitinseln zu schaffen, die es den Eltern ermöglichen, wirklich zuzuhören. Besonders dann, wenn etwas nicht so gut läuft: Gerade wenn eine Klausur verhauen wurde oder es Streit unter den Klassenkameraden gab, sollten Eltern dem Kind signalisieren: Ich bin da. „Aufgabe der Eltern ist es, die Verantwortung der Kinder für das eigene Lernen zu fördern“, sagt Klaus Seifried, „und zu lernen bedeutet auch, Fehler machen zu dürfen.“
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Frage 4: Was sagen die Lehrkräfte?
Eltern sind Expertinnen und Experten in Bezug auf ihr Kind, Lehrerinnen und Lehrer sind es mit Blick auf die schulischen Leistungen. Nur ein guter Austausch ermöglicht allen eine realistische Einschätzung der Leistungen. Das setzt voraus, dass Eltern zu den Elternabenden gehen und auch Einzelgespräche mit den Lehrkräften wahrnehmen. Aus der Bildungsforschung wissen wir, dass Schulempfehlungen bis heute sozial verzerrt sind. Das heißt, dass Kinder von Akademikern häufiger eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen als Kinder bildungsferner Eltern.
Gerade deshalb ist der Kontakt zu den Lehrkräften wichtig: „Je besser die Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern gelingt, desto präziser können die Lehrer die Kinder einschätzen“, sagt Klaus Seifried, „und das spürt auch das Kind.“ Eltern rät er, die schulischen Perspektiven unbedingt gemeinsam mit den Lehrkräften zu entwickeln, sich auf ihre Expertise zu verlassen und nicht gegen ihre Schulempfehlung zu arbeiten. Falls sich die Perspektive der Eltern stark von denen der Lehrkräfte unterscheidet, die Schulempfehlung strittig ist, sollte die Einschätzung eines Schulpsychologen eingeholt werden, empfiehlt Klaus Seifried.