Für eine Äußerung über „autistische Züge“ von Kanzler Scholz erfährt die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann viel Kritik. Eine Betroffene, die mit ihr im Bundestag sitzt, erklärt, was sie an der Debatte am meisten stört.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist im Wahlkampf – wie eh und je teilt die Verteidigungspolitikerin dabei wortgewaltig aus. Am Mittwoch aber hat die EU-Spitzenkandidatin der FDP daneben gegriffen. In einem Interview hat sie dem Kanzler „autistische Züge“ attestiert – „sowohl was seine sozialen Kontakte in die Politik betrifft als auch sein Unvermögen, den Bürgern sein Handeln zu erklären“.
Inzwischen hat sich Strack-Zimmermann bei den Betroffenen entschuldigt, die sie mit ihrem „unbedachten Vergleich“ verletzt habe. Eine von ihnen ist Sabine Grützmacher. Die Grünen-Abgeordnete sitzt gemeinsam mit Strack-Zimmermann im Bundestag. Im Interview mit dem stern erklärt die 38-jährige Finanzpolitikerin, wie sie sich die Aussage erklärt, ob sie die Entschuldigung annimmt – und was sich dringend ändern müsste.
Frau Grützmacher, was war Ihr erster Gedanke, als Sie die Aussage von Frau Strack-Zimmermann gelesen haben?
Ich dachte: Da hole ich mal meine Bingokarte und hake ein Feld ab. Betroffene können leider ein sprichwörtliches Lied von solcher Art Vorfällen singen. Weil ich falsche und diskriminierende Darstellungen von Autistinnen und Autisten immer und immer wieder gehört habe, habe ich mich vor wenigen Monaten geoutet. Zuvor wussten nur ganz wenige Menschen, dass ich Autistin bin. Aber ich wollte den falschen Darstellungen etwas entgegensetzen.
Einfach erklärt: Autismus 12:43
Wie erklären Sie sich die Aussage von Frau Strack-Zimmermann?
Das hat sicherlich etwas mit Unüberlegtheit und vorhandenen Stereotypen zu tun. Wir Politikerinnen und Politiker sind auch nur Menschen. Aber ich finde: Wir haben eine besondere Verantwortung und sollten sensibler sein. Alle demokratischen Parteien von Linkspartei bis hin zur Union haben den Verhaltenskodex für Respekt im Wahlkampf unterschrieben. Für mich gehört deshalb dazu: Wir müssen uns alle bewusst machen, dass wir mit Sprache auch bestimmte Stereotype weiter zementieren.
Was stört Sie in der aktuellen Debatte am meisten?
Dass Autismus – wieder einmal – als grenzüberschreitende Beleidigung angesehen wird. Manche Medien schreiben nun wieder von einer Krankheit. Da ist einfach viel Unwissenheit: Es handelt sich um ein Spektrum. In der Wissenschaft, in den Führungsetagen von Unternehmen oder auch im Bundestag gibt es Autistinnen und Autisten. Oft sind solche „autistischen Züge“ bei der Arbeit auch sehr hilfreich, etwa bei meinen Themen an der Schnittstelle von Finanzen und Digitalisierung. Die Gesellschaft müsste das also als Gewinn begreifen, nicht als Beleidigung. Ich hoffe, dass viele die Debatte nutzen, um mit Autistinnen und Autisten ins Gespräch zu kommen und sich zu informieren. Wir sind übrigens nicht empathielos, auch wenn manche von uns zugegebenermaßen nicht die besten Smalltalk-Kompetenzen haben.
STERN PAID Autismus Interview 12.40
Frau Strack-Zimmermann hat sich bei allen Betroffenen dafür entschuldigt, dass sie mit einem „unbedachten Vergleich Menschen mit Autismus verletzt“ habe. Können Sie die Entschuldigung annehmen?
Ich bin kein Freund der Bezeichnung „mit Autismus“, ich bin Autistin. Aber ja, die Entschuldigung ist ein Anfang. Wir müssen uns gerade im Politikbetrieb trotz allem zugestehen, dass wir Menschen sind und Fehler machen. Wünschen würde ich mir, dass Frau Strack-Zimmermann die Aufregung nutzt, um die Community zu unterstützen. So könnte eine Chance daraus werden: Wir könnten etwa gemeinsam mit Betroffenen eine Debatte über den unzureichenden Stand der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention führen. Oder über den unhaltbaren Zustand der hohen Arbeitslosenquote unter Autisten, obwohl viele von ihnen wichtige Ressourcen in den Arbeitsmarkt einbringen können.
Strack-Zimmermann zu Scholz 14.09
Mit welchen Vorurteilen haben Sie in Ihrem Alltag zu tun?
Nach meinem Outing habe ich Sprüche zu hören bekommen wie: „Du siehst aber gar nicht austistisch aus“ oder „Du kannst aber Menschen doch in die Augen schauen“. Gerade gegenüber weiblichen Autistinnen gehen die Vorurteile in beide Richtungen, denn viele spätdiagnostizierten Frauen haben sich das sogenannte Maskieren angewöhnt und wirken auf den ersten Blick nicht großartig „anders“. Die Energie, die das kostet, wird aber nicht sichtbar. Und auch ich habe schon gehört, ich könne ja gar keine Autistin sein, weil ich einige der vermeintlichen Merkmale nicht erfülle.
Ist das auch ein Problem für Ihre Arbeit als Parlamentarierin in Berlin?
Diskriminierung oder Vorurteile sind für mich genauso ein Problem wie für alle anderen diskriminierten Menschen. Es kostet Zeit und Kraft. Und es ist ein Abwägen, inwiefern man in die Öffentlichkeit geht, denn auch das kostet Kraft und macht angreifbar. Der Anschlag auf die Wohngemeinschaft der Lebenshilfe in Mönchengladbach zeigt auch, dass Diskriminierung gegen Menschen mit Behinderung insgesamt leider eine reale Gefahr darstellt.
STERN PAID 21_24 Politikergewalt 15:01
Was würden Sie sich wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass mehr mit uns statt über uns gesprochen wird – das gilt für alle Menschen mit Behinderung. Idealerweise, wie es Raúl Krauthausen auf der re:publica sagte: gar nicht ohne uns. Für Autistinnen und Autisten speziell wünsche ich mir, dass gerade die Frauen unter uns sichtbarer werden, es Rollenvorbilder gibt und mehr Sensibilisierung.
Was sollte die Politik tun?
Ich hätte eine Idee: Der Bundestag könnte Daniela Schreiter, Autorin des Comics „Schattenspringer“, zu einer Lesung einladen – eine wunderbare Cartoonistin, die viel zur Verständigung beiträgt. Ansonsten braucht es Austausch mit der Community und echte Beteiligung. Ich würde mir von allen Politikerinnen und Politikern wünschen, dass sie sich dafür einsetzen. In Zeiten des stärker werdenden Rechtsextremismus brauchen wir außerdem ein starkes Bündnis, das sich gegen Diskriminierung, Hass und Hetze stellt.