„Punk Girls“ erzählt, die weibliche Entstehungsgeschichte des britischen Punks Mitte der 70er – kurzweilig, euphorisierend und kraftspendend wie die Musik selbst.
„Some people think little girls should be seen and not heard, but I think ‚Oh bondage, up yours!‘ One-two-three-four!“, so sagt es Sängerin Poly Styrene im Intro von „Oh Bondage Up Yours“, einem 1977 erschienenen Song ihrer Band X-Ray Spex. Danach kicken die Musikerinnen in den Song, ein dreiminütiges Aufbegehren gegen alte Seilschaften, Kräfteverhältnisse, gegen das Patriarchat, die Unterdrücker. Drei Minuten, nach denen nichts mehr ist wie zuvor, so voller revolutionärer Energie, die bis heute nichts an Strahlkraft, an Furor und Kampfgeist verloren hat.
Manchmal reichen kurze Momente, eine Begegnung, ein Konzert, ein Lied, um ein ganzes Leben zu verändern. Drei Akkorde und die Wahrheit, ein jaulendes Saxofon und eine Sängerin, die meint, was sie da sagt und singt und kreischt. Annette Benjamin, ehemalige Sängerin der Hannoveraner Punkband Hans-A-Plast, erlebt es in Echtzeit.
„Alles, was passiert, ist für mich“
1977 reist sie nach London, landet in einem Liveclub, auf der Bühne stehen Poly Styrene und X-Ray Spex. Nach dem Konzert ist auch für Benjamin nichts mehr, wie es vorher war. „Die Kraft der Musik war so einzigartig, so unmittelbar“, erinnert sie sich. „Mir war sofort klar: Ich will das auch machen. Das hat alles verändert, danach wusste ich: Ich bin Punk, das ist meine Musikrichtung. Alles, was passiert, ist für mich.“
„Ich bin Punk, das ist meine Musikrichtung“: Annette Benjamin, Sängerin der Hannoveraner Punkband „Hans-A-Plast“
© Annette Benjamin/ZDF
Alles, was passiert – im von Energiekrise, Thatcherism und Hoffnungslosigkeit geprägten Großbritannien um 1976/77 wird das, was in puncto Punk passiert, zumeist als männlich dominiertes Narrativ ausgebreitet, im Fokus traditionell Bands wie die Sex Pistols, The Damned und The Clash. Filmemacherin Christine Franz hat eine andere, mindestens ebenso wichtige und wahre Geschichte zu erzählen.
TV-Kritik Millennial Punk 20:06
Mit ihrer Doku „Bunch Of Kunst“ über den Aufstieg der UK-Rap-Helden Sleaford Mods hatte sie vor einigen Jahren einen Überraschungscoup gelandet, weltweit für Begeisterung gesorgt und Preise gewonnen. Jetzt hat sie sich der weiblichen Seite des Nukleus’ der britischen Punkbewegung angenommen, und wiederum gelingt ihr das so unterhaltsam wie lehrreich, dass man schon nach wenigen Minuten wünscht, der Film wäre doppelt so lang.
Die Slits werden auf der Bühne angerotzt
„Als ich das erste Mal vier Frauen auf einer Bühne sah, die ihre eigenen Songs spielen, konnte ich mich überhaupt erst mit Musik identifizieren“, erzählt Gina Birch von den stilprägenden Raincoats über ihren Erweckungsmoment, der klingt als stamme er aus dem Pleistozän, tatsächlich aber gerade mal 50 Jahre her ist.
Viv Albertine (l.), Gitarristin von „The Slits“ : „Wir haben den Punk geprägt, wir haben ihn ja überhaupt erst erfunden“
© David Corio/ZDF
Die Zeiten werden schnell rau, um nicht zu sagen gefährlich für die ersten Vertreterinnen ihrer Art. Slits-Sängerin Ari Up entkommt nur knapp einem Messerangriff, die Musikerinnen werden auf der Straße verfolgt, auf der Bühne angerotzt. Gleichzeitig halten sie mit Trotz und neuem Selbstbewusstsein dagegen. „Don’t fuck with us“, erzählt Slits-Gitarristin Viv Albertine und lacht, „genau das war unsere Einstellung!“
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Annette Benjamin kehrt nach Hannover zurück, gründet die Band Hans-A-Plast und tut das, wozu Poly Styrene aufgefordert hatte: Sie sprengt die Fesseln. Songs wie „Für ’ne Frau gut“ oder „Lederhosentyp“ nehmen das Mackertum aufs Korn, schreiben die deutsche Geschichte des weiblichen Punks. Überhaupt ist das der Punkt, den Viv Albertine noch einmal klarmacht: „Punk hat uns nicht geprägt, es war vielmehr umgekehrt. Wir haben den Punk geprägt, wir haben ihn ja überhaupt erst erfunden.“
„Punk Girls“: Die Geschichte musikalischer Selbstermächtigung
So erzählt „Punk Girls“ die Geschichte musikalischer Selbstermächtigung nicht als zeitverkapselte Rückschau-Doku, sondern vielmehr als Verbindungsstück zwischen dem Damals mit dem Hier und Jetzt. Da ist Autorin Vivien Goldman, die kürzlich ihr aktuelles, sehr lesenswertes Referenzwerk „Die Rache der She-Punks“ veröffentlicht. Gina Birch, deren Bilder in der Tate Gallery ausgestellt werden und die jetzt ihr erstes Soloalbum am Start hat.
Annette Benjamin, die zusammen mit Musikern wie Julian Knoth (Die Nerven), Thomas Götz (Beatsteaks) und Drangsal als Die Benjamins neue Musik herausbringt. Kathleen Hannah, die amerikanische Stimme in diesem Kosmos, die wieder mit Bikini Kill tourt – und Stephanie Phillips und Estella Adeyeri von der neuen Band Big Joanie, die eindrücklich klarmachen: Dieses Gefühl, „zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein“ (Benjamin), ist kein Ding aus den Geschichtsbüchern – das ist so aktuell, erlebbar, lebensverändernd wie eh und je.
In diesem Sinne: Oh Bondage Up Yours! Weg mit den Fesseln! „Punk Girls“ gucken! Und natürlich Bands gründen! One-two-three-four…
Ab 12. September 2024 in der Arte-Mediathek
Am 13. September um 22.40 Uhr auf Arte