Jedes Jahr sterben in Deutschland rund 9.000 Menschen durch Suizid. Ab wann Suizidgedanken gefährlich werden – und warum Reden in diesem Fall Gold ist.
Alle 57 Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch durch Suizid. Im Jahr sind das mehr als 9.000 Menschen. Damit sterben mehr Menschen durch eine Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle, illegale Drogen und Gewalttaten zusammen. Jährlich gibt es zwischen 100.000 und 150.000 Suizidversuche in Deutschland, weltweit wird die Suizidrate auf rund 700.000 Menschen geschätzt.
All das sind ernüchternde Zahlen. Dabei ist Suizid schon seit Jahrzehnten eine der Haupttodesursachen von jungen Menschen. Trotzdem haben wir es als Gesellschaft noch nicht geschafft, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Genau deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits vor 19 Jahren den 10. September zum Welttag der Suizidprävention ernannt. Seitdem findet jedes Jahr an diesem Tag eine große Aufklärungskampagne statt.
Das Stigma von psychischen Krankheiten
Ein Tag im Jahr reicht in diesem Fall allerdings nicht ansatzweise aus, wie Amelie Schwierholz, Projektleiterin des Vereins „Freunde fürs Leben“ im Gespräch mit dem stern erzählt: „Das Wichtigste für die Suizidprävention ist, das Stigma von psychischen Krankheiten endlich aufzubrechen.“
Dafür seien vor allem Schulen ein wichtiger Anlaufpunkt. „Dort gibt es bereits regelmäßig Aufklärung zu Alkohol und Drogen, aber was mit uns passiert, wenn unsere Psyche leidet und wie man damit umgeht, das wird den Kindern und Jugendlichen nicht beigebracht“, sagt die Expertin.
Nicht umsonst klärt der Verein „Freunde fürs Leben“ bereits seit 2001 Jugendliche und junge Erwachsene über die Themen psychische Gesundheit, Depression und Suizid auf. Die Grundthese: Durch Informationsvermittlung über Warnsignale, Hilfsangebote und Therapiemöglichkeiten ist Suizidprävention möglich.
Wenn die Präventionsmaßnahmen nicht wirken
Auch Prof. Dr. Barbara Schneider, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LVR-Klinik in Köln und Leiterin des Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro) beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie man die Suizidrate senken kann. „Über die universelle Suizidprävention hinaus brauchen wir eine spezifische Ansprache von Risikogruppen und eine entsprechende Nachsorge für Menschen, die bereits einen Suizidversuch hinter sich haben.“
Zwar gibt es diese Maßnahmen bereits deutschlandweit, aber sie zeigen nicht immer die gewünschte Wirkung: Laut einer Studie unter der Federführung von Psychologieprofessor Tobias Teismann, die im „Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung“ erschienen ist, unternehmen 22,4 Prozent der Betroffenen einen erneuten Suizidversuch innerhalb von fünf Jahren.
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Ob der Suizidversuch gelingt, hängt den Daten zufolge auch mit dem Geschlecht zusammen. So werden laut dem Statistischen Bundesamt 75 Prozent der Suizide von Männern begangen, die Zahl der Suizidversuche ist bei Frauen allerdings deutlich höher. „Ein Grund dafür ist, dass Männer bei Suizidversuchen zu härteren Methoden greifen und deshalb seltener gerettet werden können“, erklärt Amelie Schwierholz.
Suizidgedanken sind keine Seltenheit. Mehreren Umfragen zufolge haben etwa 70 bis 80 Prozent aller Deutschen schon einmal darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen. Aber: „Die intensive Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod stellt noch keine akute Suizidgefahr dar“, sagt Psychiaterin Barbara Schneider. Sobald man aber die Kontrolle über die Suizidgedanken verliert oder diese konkreter werden, vielleicht sogar erste Suizidpläne entstehen, solle man sich Hilfe suchen.
Therapieplatzmangel als Risikofaktor
Ähnlich wie bei der Depression gilt auch im Hinblick auf Suizidgedanken: Wenn der Leidensdruck mindestens 14 Tage lang anhält, dann ist es höchste Zeit, zu handeln. Übrigens liegt die Ursache für Suizidgedanken ebenfalls häufig in einer Depression. Rund 60 Prozent der Menschen, die sich suizidieren, hatten im Vorfeld eine schwere Depression. Umso wichtiger sind frühzeitige Präventionsmaßnahmen.
Dabei stehen Betroffene immer wieder vor einem Problem – dem massiven Therapieplatzmangel in Deutschland. Betroffene und Organisationen in Deutschland fordern schon lange eine Erhöhung der Kassensitze für Psychotherapeuten, damit der Zugang zur Psychotherapie für Betroffene nicht so schwierig ist. „Aktuell warten Patient:innen mitunter ein halbes Jahr auf ihren Therapiebeginn.
Eine Zeit, in der sich die Erkrankung auch verschlechtern kann“, sagt Amelie Schwierholz von „Freunde fürs Leben“. Dabei sei gerade im Hinblick auf Suizidgedanken klar: „Je früher Betroffene Hilfe bekommen, desto eher können Suizide verhindert werden.“
Psychiaterin Barbara Schneider rät deshalb im Gespräch mit dem stern: „Wer akut Hilfe benötigt, sollte sich an eine Klinik oder Hotlines wie die Telefonseelsorge wenden. Dort bekommt man niedrigschwellig schnelle Hilfe, bis die langfristige Therapie dann möglich ist.“
Was bei Suizidgedanken hilft
Apropos Hilfe: Wie kann Betroffenen überhaupt geholfen werden? In dieser Hinsicht sind sich die beiden Expertinnen einig: Reden ist das wichtigste. „Das heißt, auch wenn man nur eine vage Befürchtung hat, dass jemand Suizidgedanken hat, dann sollte man das immer ansprechen – natürlich mit dem entsprechenden Feingefühl“, sagt Schneider.
Menschen mit Suizidgedanken brauchen vor allem Verständnis und eine offene Zuwendung. Und genau das führt bei vielen Angehörigen laut Schwierholz oftmals zu einer gewissen Hilflosigkeit: „Viele sagen dann lieber nichts, weil sie fürchten, nicht die richtigen Worte zu finden. Dabei ist reden immer richtig.“ Damit signalisiere man den Betroffenen, dass sie nicht allein sind.
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Konkrete Lösungsvorschläge oder Möglichkeiten, die Probleme des Betroffenen zu klären, sollte man allerdings erstmal für sich behalten. Denn „die kann das Gegenüber in der aktuellen Notsituation im Zweifel gar nicht annehmen.“ Psychiaterin Barbara Schneider erklärt, woran das liegt: „Es ist wichtig zu verstehen, dass Menschen mit Suizidgedanken gerade nur diesen einen Ausweg sehen und nicht etwa den großen Strauß an Möglichkeiten, den andere Menschen in der gleichen Situation vielleicht sehen würden.“
Wie erkenne ich Suizidgedanken?
Wer sie noch nie hatte, dem fällt es mitunter schwer, Suizidgedanken nachzuvollziehen. Umso wichtiger ist es, wertfrei in das Gespräch mit Betroffenen zu gehen und die Gefühle und Gedanken ernst zu nehmen. „Suizidgedanken sind oft eng mit einer großen Hoffnungslosigkeit verbunden“, erklärt Amelie Schwierholz. „Wenn man denkt, dass das Leben keinen Sinn mehr macht und man vielleicht schon konkrete Pläne für eine Selbsttötung schmiedet, sollte man sich unbedingt jemandem anvertrauen und sich Hilfe suchen.“
Von anderen Menschen sind entsprechende Gedanken allerdings deutlich schwerer zu identifizieren. Laut Schwierholz zeigen sich Suizidgedanken manchmal auch durch eine Verhaltensänderung. „Betroffene schlafen manchmal gar nicht oder viel mehr, essen nichts oder viel mehr als früher und neigen zu selbstzerstörerischem Verhalten. Das sind Hilferufe, die man ernst nehmen sollte.“
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Zudem sprechen die Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen, ihre Pläne im Vorfeld aus. Meistens jedenfalls. Es gibt auch Fälle, in denen Betroffene sich zurückziehen. „In diesem Fall senden die meisten aber dennoch indirekte Hinweise auf ihre Notlage beziehungsweise ihre Pläne“, erklärt Psychiaterin Schneider. Sie seien dann zum Beispiel plötzlich sehr dankbar oder „scheinen nach außen als zufrieden, obwohl sie vor kurzer Zeit noch niedergeschlagen waren.“
Warum wir Suizidprävention brauchen
Rund 9000 Menschen im Jahr, die sich allein in Deutschland suizidieren, das sind jedes Jahr 9000 Todesfälle, die man mit weitreichenden Präventionsmaßnahmen verhindern könnte. Soweit jedenfalls die Theorie. In der Praxis stehen wir als Gesellschaft dahingehend noch vor einigen Baustellen.
Und genau deshalb ist der Welttag der Suizidprävention so wichtig. Er erinnert uns daran, dass es sich lohnt, um jedes Leben zu kämpfen, auch – oder vielleicht gerade dann – wenn einem das eigene gerade sinnlos erscheint. Und wenn gerade alles ausweglos erscheint, dann lohnt es sich immer, sich Hilfe zu holen.
Quelle: Studie von Tobias Teismann, Freunde fürs Leben, Nationales Suizidpräventionsprogramm