Bei den Landtagswahlen feiern Populisten Rekordergebnisse. Wie retten wir unsere freie Gesellschaft? Der Demokratie-Experte Jürgen Wiebicke hat Antworten.
Vergangenen Sonntag bei den Wahlen in Thüringen haben fast 50 Prozent der Wähler für die AfD und das BSW gestimmt. In Sachsen waren es kaum weniger. Sorgt Sie das?
Ja, sicher. Aber nicht erst seit Sonntag. Das war ein Sorgentag mit langem Vorlauf. Wenn eintritt, was man vorher lange befürchtet hat, muss die Devise sein: cool bleiben, die Übersicht bewahren und schauen, wie man aus dem Schlamassel wieder rauskommt.
Neu ist, dass populistische Parteien die Wahlgewinner sind.
Und trotzdem darf man nicht der Versuchung erliegen, gleichzeitig die Wählerinnen und Wähler dafür zu schelten. Es ist nicht das Gleiche, ob man aktiv Verdruss schürt oder ob man verdrossen ist. Nach vielen Gesprächen in den beiden Bundesländern weiß ich: Da gibt es oft sehr gemischte Motive, warum Menschen überlegen, AfD zu wählen.
Kann man Demokrat sein, obwohl man AfD oder BSW seine Stimme gibt?
Man kann das aus einem Leichtsinn heraus tun, aus Unüberlegtheit. So wie man eine Stinkbombe wirft. Oder aber aus Frustration, wenn man den Eindruck hat, dass die eigenen Probleme nicht gesehen werden. Aber jeder einzelne Mensch muss sich früher oder später fragen: Kannst du dieses Kreuz verantworten, oder kannst du es nicht? Und die Antwort kann nur heißen: Man kann es nicht verantworten.
Ein Grundsatz in ihrem Buch „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“ von 2017 lautet: „Bleibe gelassen im Umgang mit Demokratie-Verächtern“. Würden Sie das heute auch noch so formulieren?
Es gibt eine Paradoxie: Einerseits benötigt Demokratie Leidenschaft. Man muss begeistert sein von einer bestimmten Idee. Und andererseits muss man ein paar demokratische Tugenden entwickeln, weil nicht alle die gleichen Meinungen haben wie man selbst. Und dazu gehört die Gelassenheit, also genau das, was derzeit so fehlt.
Man könnte es auch wie Abraham Lincoln sehen: „Wahlen gehören den Menschen. Es ist ihre Entscheidung. Und wenn sie entscheiden, dem Feuer den Rücken zuzukehren und sich den Hintern zu verbrennen, dann müssen sie nachher eben auf ihren Blasen sitzen.“ Hatte er nicht Recht?
Das ist zwar toll gesprochen, aber leider brennen, wenn die Falschen nach der Macht greifen, auch die Hintern von Menschen, die sich ganz anders entschieden haben.
Wie viel muss eine freie Gesellschaft aushalten können? Der Schriftsteller und Kabarettist Werner Finck hat gesagt: „Da, wo es zu weit geht, fängt die Freiheit erst an.“
Ich bin ein Anhänger eines sehr weiten Freiheitsbegriffs. Ich habe aber das Gefühl, dass unsere Debattenkultur und unser politisches Klima in den vergangenen Jahren viel enger und stickiger geworden sind. Erkennbar daran, wer sich so alles weigert, mit Andersdenkenden auch nur zu reden. Auch das ist eine Ursache für Verdruss und für fatale Fehlentscheidungen in der Wahlkabine. Wer die Freiheit eines anderen einschränken möchte, ist immer in der Beweispflicht, warum genau die Grenzen der Toleranz überschritten sind. Und das muss immer die Ausnahme sein. Ich muss bereit sein, mich auch mal zu quälen mit dem, was andere meinen.
Tischner Höcke-Bezwinger 17:02
Ex-Kanzlerin Angela Merkel hat mal gesagt: „Wir haben wahrlich keinen Rechtsanspruch auf Demokratie und soziale Marktwirtschaft auf alle Ewigkeit.“ Steht nun unsere Lebensform Demokratie auf dem Spiel?
Sicher. Aber nicht, weil es auf einmal so viele Verächter gibt, sondern weil viele das, was andere Generationen vor uns erkämpft haben, als gegeben betrachten. Sie können sich gar nicht mehr vorstellen, dass unsere Lebensform auf einmal nicht mehr existiert. Wir müssen dringend aufhören, uns auf die Feinde der Demokratie zu fixieren. Wir müssen uns stattdessen die Frage stellen: Wie schaffen wir mehr Freunde der Demokratie herbei, die sich einbringen? Und was könnte mein eigener Beitrag sein?
Das wird immer schwieriger …
Ja. Wir haben eine Erosion an politischem Engagement. Obwohl die AfD neu dazugekommen ist, hat sich die Zahl der Mitglieder aller Parteien seit 1990 halbiert. Es reicht nicht, Demokratie dauerhaft nur als Geschenk zu betrachten. Demokratie ist wie ein Fahrrad, das immer weiter getreten werden muss, sonst fällt es um.
Aristoteles kanzelte die Demokratie als Herrschaft der Unterschicht ab. Die Ärmeren und Faulen wären in den Parlamenten in der Mehrzahl, würden die Wohlhabenden und Tüchtigen überstimmen und ihrer Potenziale berauben. So ähnlich ätzen auch heute die Rechten.
Aristoteles sagte das nach dem Höhepunkt der Polis-Demokratie in Athen. Im Nachhinein ist es immer leicht, den Verfall zu beklagen. Lieber sollte man schauen, wie Demokratie wieder blühen kann. Bei der attischen Demokratie waren alle eingeladen, sich einzubringen. Die es nicht taten, hat man „Idiotes“ genannt.
Thüringens AfD-Chef Björn Höcke beklagt, dass die AfD die meisten Stimmen in Thüringen geholt habe und dennoch keine Partei mit der AfD auch nur reden wolle. Ist das demokratisch?
Wenn jemand vom äußersten rechten Rand plötzlich den Superdemokraten gibt, können wir nur eines daraus lernen: Es gehört zu den Dilemmata der Demokratie, dass sich ihre Feinde als wahre Demokraten verkleiden.
Aber sich den unangenehmen Gegnern zu widmen, ist doch nicht grundsätzlich falsch, oder?
Nein, aber wie viele Stimmen Höcke auch immer geholt haben mag, das legitimiert noch lange nicht den Anspruch, Ministerpräsident zu werden. Dafür braucht man schon die Mehrheit des Parlaments.
Und wie steht es um Sahra Wagenknecht, die mit dem BSW durchgestartet ist und zur Königsmacherin wird?
Sie hat eine Schlüsselrolle inne, die sowohl Anstand als auch politische Klugheit verlangt. Sie muss sich entscheiden: Will sie jetzt in den Maschinenraum der Demokratie einsteigen oder einfach nur weiter den Verdruss fördern?
Warum sehen die Deutschen so gern überall nur Unheil?
So deutsch ist das gar nicht. Dass es früher paradiesisch war, heute alles furchtbar ist und darum zusammenbrechen muss, damit es morgen wieder gut wird – das ist eine jahrtausendealte Denkfigur, die in Religionen und Ideologien wohl weltweit auftaucht. Aber es stimmt schon: Ich war im Sommer in Frankreich und dachte: Was muss das für ein zerrissenes Land sein. Dann stellte ich fest: Die Menschen gehen viel freundlicher miteinander um. Ich vermisse diese französische Grundfreundlichkeit.
Woran liegt das? Sind wir Gefangene unserer Angst?
Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte hat es auf dem Flecken Erde, auf dem wir leben, so viel Sicherheit im Leben gegeben wie heute. Trotzdem wünschen sich die Menschen noch mehr Sicherheit. Aus Angst, die dann in Konkurrenz zur Idee von Freiheit tritt. Diese Angst gilt es zu bekämpfen, sonst bekommen wir eine Politik der Angst, deren Ergebnisse fürchterlich sind.
Aber wie bekämpft man diese Angst?
Indem ich selbst etwas tue. Zuversicht fällt nicht vom Himmel, sie ist Produkt eigener Arbeit. Gerade im Politischen hat sich eine Konsumentenmentalität entwickelt. Menschen denken: Wählen ist so, als ob ich bei Amazon etwas bestelle. Wenn mir die politische Dienstleistung nicht gefällt, gebe ich das Paket zurück und bestelle woanders. Demokratie braucht aber aktive Staatsbürger, nicht nur Konsumenten.
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Was heißt das konkret?
Dass wir uns schon selbst einbringen müssen. Und dass wir, wenn wir reif und mündig sein wollen, akzeptieren müssen, dass wir ein paar große politische Fragen haben, die im Moment nicht endgültig zu beantworten sind. Wir haben keine gute Antwort auf die Frage des Klimawandels, wir müssen experimentieren. Wir haben keine gute Antwort auf die Frage, wie wir Millionen Migranten behandeln, ohne grausam zu sein oder unsere Gesellschaft zu überfordern. Wir wissen auch nicht, wie wir in einer endlichen Welt eine Ökonomie organisieren, die auf Wachstum angewiesen ist. Wir haben für all das noch kein neues Betriebssystem. Das macht nervös.
Aber wie retten wir denn nun die Demokratie?
Das Allerwichtigste ist, sich klarzumachen, dass die eigene Perspektive auf die Welt nur eine von vielen ist. Das zweite ist die Bereitschaft, sich notfalls mit der Meinung des anderen zu quälen. Die dritte Tugend lautet, fair zu streiten, ohne sich an die Wäsche zu gehen. Und die vierte Tugend wäre, den Kompromiss nicht zu verachten, sondern als elementar zu betrachten.
Nun sind es ausgerechnet die Jüngeren, die in Thüringen und Sachsen oft die AfD gewählt haben. Ist es vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis die deutsche Demokratie untergeht?
Keine Angst, auch ich habe in dem Alter mal bekloppt gewählt. Ich klammere mich voller Hoffnung daran, dass aus der jetzigen Situation bei jungen Leuten wieder die Einsicht erwächst, dass jede andere Lebensform als unsere eine einzige Blamage wäre.