Die Brandkatastrophe im Londoner Grenfell Tower, bei der vor sieben Jahren 72 Menschen starben, war laut einem Untersuchungsbericht die Folge von „jahrzehntelangem Versagen“ der britischen Regierung und „systematischer Unehrlichkeit“ von Baustofffirmen. Alle 72 Todesfälle wären vermeidbar gewesen, sagte der Chef einer unabhängigen Untersuchungskommission, der ehemalige Richter Martin Moore-Bick, bei der Vorlage seines Abschlussberichts am Mittwoch in London. Premierminister Keir Starmer entschuldigte sich im Namen des Staates für die Tragödie.
Am frühen Morgen des 14. Juni 2017 war in der vierten Etage des 24-stöckigen Wohnturms im Stadtteil North Kensington ein durch einen defekten Kühlschrank ausgelöstes Feuer ausgebrochen. Über eine hochbrennbare Fassadenverkleidung breiteten sich die Flammen innerhalb einer halben Stunde bis zum obersten Stockwerk aus.
Der nun vorgelegte Untersuchungsbericht übt heftige Kritik an der damaligen Regierung und wichtigen Behörden. Besonders schwer wiegen die Vorwürfe gegen die Baustofffirmen, die die Fassadenverkleidung und weitere Dämmmaterialien lieferten. Ihnen werfen die Ermittler „systematische Unehrlichkeit“ vor, weil sie „bewusst und andauernd“ Tests und deren Ergebnisse manipuliert hätten.
Auch die Londoner Feuerwehr wird in dem Bericht scharf kritisiert. Deren Leitung habe nicht dafür gesorgt, dass die mit der zunehmenden Verwendung von Fassadenverkleidung einhergehenden Gefahren in der gesamten Feuerwehr bekannt und in der Ausbildung berücksichtigt worden seien. Die Leitung habe zudem keine Lehren aus einem vorangegangenen Brand im Jahr 2009 gezogen, der bereits Schwächen bei der Brandbekämpfung in Hochhäusern offenbart habe.
Hinzu komme, dass Bewohner des Grenfell Towers von der Notrufzentrale noch bis fast zwei Stunden nach Ausbruch des Brandes den Ratschlag erhielten, in ihren Wohnungen zu bleiben und auf Rettung zu warten. Dies führte dazu, dass Bewohner in ihren eigenen Wohnungen von den Flammen eingeschlossen wurden und starben.
Premierminister Starmer entschuldigte sich am Mittwoch im Namen des Staates für die Tragödie. Diese hätte „nie passieren dürfen“, sagte er im Parlament. Der Staat habe seine „grundlegendste Pflicht verletzt“, seine Bürger zu schützen. „Das tut mir zutiefst leid.“
Viele Bewohner von Gebäuden, deren Fassaden mit ähnlichen Platten verkleidet sind, leben seit dem Unglück in ständiger Angst vor einer ähnlichen Katastrophe. Besitzer von Eigentumswohnungen in solchen Gebäuden stehen vor finanziellen Problemen, weil ihre Wohnungen unverkäuflich geworden sind.
Erst vor rund anderthalb Wochen war in einem Hochhaus in Dagenham im Osten Londons ein Brand ausgebrochen, mehr als 80 Menschen mussten evakuiert werden. An dem Gebäude liefen gerade Arbeiten zur Entfernung der nicht feuersicheren Fassadenverkleidung. Nach Behördenangaben stehen allein in London rund 1300 Gebäude, deren Verkleidung dringend ausgetauscht werden müsste.
Unabhängig von dem jetzt vorgelegten Untersuchungsbericht laufen die Ermittlungen der Londoner Polizei zu der Grenfell-Tower-Katastrophe weiter. Sie sollen Ende kommenden Jahres abgeschlossen sein. Anschließend dürfte es nach Angaben der Staatsanwaltschaft mindestens zwei weitere Jahre dauern, bis über mögliche Anklagen gegen Verantwortliche entschieden wird.