Vierteiler auf Disney+: Dua Lipa und die Musikdoku „Camden“: Stadtteil als Legende und ewiger Zirkus

Wer nach London reist, landet früher oder später in Camden. Auf ein paar Pint, wegen des Marktes oder für das nächste Konzert. In einer neuen Doku erzählen Megastars wie Dua Lipa, Chris Martin und Noel Gallagher, was die Magie des Bezirks ausmacht. Und sofort will man wieder hin.

„Von so einem Ort habe ich immer geträumt“, sagt Nile Rodgers ziemlich am Ende von „Camden„. „Ein Ort, an dem alle cool sind.“ Spricht’s und lächelt versonnen. Und wer der vierteiligen Dokumentation bis hierhin gefolgt ist, wird es ihm zweifelsohne gleichtun. Lächeln, schwelgen, tief ausatmen – und mit den nächsten Klicks am Computer bei British Airways, AirBnB oder auf einer Londoner Website mit Konzerttipps landen. Camden, wann war man da denn zuletzt? Und wie kommt man jetzt bitte ganz schnell wieder hin? 

Der Sog des Hippen, ewiger Underground, Dagegenkultur, genau darum geht es in dieser Produktion, die Superstar Dua Lipa angestrengt hat. Um die ja sehr berechtigte Frage: Was macht diesen Ort eigentlich durch alle Zeiten hindurch so cool?

Nile Rodgers in „Camden“: „Ein Ort, an dem alle cool sind.“
© Ben Blackall/Disney

Anno 1791 wurde der Bezirk als Teil von Kentish Town und St. Pancras deklariert, um die 25.000 Einwohner leben heute hier. Namensgeber war Charles Pratt, der erste Earl Camden. Bis Mitte der 1950er Jahre galt der Stadtteil als wenig angesagt. Das änderte sich in den 1960ern und 70ern, als die Camden Markets begannen, Publikum anzuziehen. Die ikonische Venue „The Roadhouse“ öffnete ihre Tore, Gruppen wie Pink Floyd und die Stones spielten hier, später sorgten Shows der Ramones, Sex Pistols und von The Clash, die ein paar Ecken weiter probten, für Furore. Plattenläden machten auf, Bands bezogen günstige Räumlichkeiten, kurzum: Es setzte der Schneeballeffekt ein, der bis heute zu spüren ist.

Dua Lipa hat für „Camden“ zahlreiche Superstars aktiviert

Wie einflussreich dieses Areal ist, welche Wirkung es auf seine Besucher und seine populären Bewohner hat, erfährt man am besten aus erster Hand. Deshalb hat Dua Lipa etliche Superstars aktiviert, die zum Teil sehr emotional und dabei durchweg kurzweilig von ihren ganz persönlichen Erfahrungen und prägenden Erlebnissen erzählen. 

Questlove ist dabei, der charismatische Drummer von The Roots, als latent arroganten Newcomer hatte es ihn nach London gezogen. Vor Ort musste er feststellen, dass er „keine Ahnung von irgendetwas hatte“. Ahmir Khalib Thompson, wie Questlove bürgerlich heißt, setzte sich also einen zu kleinen Hut auf, fing an zu lernen und blieb am Ende fünf Jahre, ehe er als Star in die USA zurückkehrte. Sein Nährboden, die musikalische Schule: Jazz, Acid Jazz, das legendäre Jazz Café in Camden, die Szene des Stadtteils mit ihren immer wieder neuen, einfallsreichen, begeisternden Sounds.

Chris Martin erzählt von den ersten Coldplay-Shows, die mäßig besucht waren

Neben Questlove kommen Little Simz zu Wort und eben Dua Lipa, die hier aufgewachsen ist. Carl Barât und Pete Doherty, mit einem Glas Guinness vor sich, schwärmen von den Anfangstagen der Libertines. Sister Bliss von Faithless ist dabei, Soul II Souls Jazzie B ebenso. Chris Martin erzählt lächelnd von den mäßig besuchten Shows, die er mit Coldplay absolvierte, als noch keiner sie kannte. Noel Gallagher bringt es auf den Punkt, was Oscar Wilde einst mit seinem Zitat meinte: „Youth is wasted on the young.“ Anders gesagt: Was macht man als adoleszenter Mensch? „Den ganzen Abend Bier saufen und Blödsinn labern“, sagt Gallagher und grinst.

Chris Martin erzählt von den mäßig besuchten Shows seiner damals völlig unbekannten Band Coldplay
© Disney

So recht der Mann auch haben mag: In Camden ist es aber eben mehr als nur das. Denn gezecht wird auch am Ballermann, musikhistorisch aber ist der Saufstrand nicht allzu ruhmreich aufgefallen. In Camden gibt es nicht nur das legendäre „Roundhouse“. Auf der kleinen Bühne des „Camden Barfly“ spielten Bands wie Blur und Oasis ihre ersten Gigs, und im legendären „The Dublin Castle“ brachten Madness im Hinterzimmer einst die Ska-Fans zum Zappeln, spielten Coldplay ohne Bassdrum ihre erste Show und versetzten schließlich Größen wie die Arctic Monkeys und Amy Winehouse das Publikum des Stadtteilfestivals „Camden Crawl“ in schiere Verzückung. „Koko“, „Camden Ballroom“, „Dingwalls“, allesamt heiliger Boden, was die Club- und Konzerthistorie der Themse-Metropole angeht.

Bierselige Nostalgie und gelebte Popgeschichte

So wird aus „Camden“ schließlich ein eklektischer Mix, in dem alles seinen Platz findet: Bierselige Nostalgie und gelebte Popgeschichte, kulturelle Retrospektive und stilistische Einordnung, aus erster Hand nacherlebt und erzählt. In den vier Episoden geht es chronologisch zum Teil drunter und drüber. Auch die Tatsache, dass Szene-Urväter wie Boy George oder Rusty Egan erst im letzten Teil ausführlich zu Wort kommen, mag nicht vollends stimmig sein. Am Ende ist es egal. 

Was zählt, ist jenes euphorisierende Stück Popgeschichte, das hier ausgebreitet wird – die Clubs und die Konzerte, die Movers und die Shakers, damals, heute, morgen und übermorgen. Ein Ort, an dem wirklich alle cool sind? Vielleicht. Ein ikonischer Stadtteil, der bei allem touristischem Mainstream und aller Gentrifizierungsproblematik immer noch ungebrochen anziehend ist? Ganz sicher. „Camden“ verdeutlicht das auf höchst unterhaltsame Weise.

„Camden“
(Disney+)
Vier Folgen à 45 Minuten