Landtagswahlen: Waren die Demos gegen Rechtsextremismus wirkungslos, Herr Rucht?

Protestforscher Dieter Rucht prognostizierte vor den Landtagswahlen erneut große Demonstrationen gegen die AfD. Doch die blieben aus. Hier erklärt er, warum die Protestbewegung den Durchmarsch der AfD nicht stoppen konnte.

Herr Rucht, am vergangenen Wochenende sind in Leipzig, Dresden und Erfurt Tausende auf die Straße gegangen – für Demokratie, gegen die AfD. Ist das eine zweite Welle der Proteste wie Anfang des Jahres?

Eine solch große Protestwelle ist das nicht. Die Mobilisierung blieb deutlich hinter den Hoffnungen der Organisatoren zurück. Auch ich hatte erwartet, dass es vor den Landtagswahlen noch einmal zu flächendeckenden Demonstrationen kommt, ausgelöst von einer Debatte über die Auswirkungen eines AfD-Erfolges. Da habe ich mich getäuscht.

Für die Organisatoren der Kundgebungen dürfte das frustrierend sein. Schließlich könnte die AfD laut aktuellen Umfragen in Sachsen und Thüringen stärkste Kraft werden.

Ja, und offenbar reagieren manche darauf eher unangemessen: Sie veröffentlichen stark geschönte Teilnehmerzahlen. Meine Kollegen haben bei Demonstrationen im Juli nachgeprüft, wie viele Menschen mitliefen, auch in Leipzig und Dresden. Sie zählten teilweise nur halb so viele Demonstranten wie die Veranstalter.

Protestforscher Dieter Rucht hatte vor den Landtagswahlen eine erneute Protestwelle gegen die AfD erwartet
© Actionpress

Zwischen Januar und Anfang März beteiligten sich laut Ihrer Zählung über drei Millionen Menschen an den Demokratie-Protesten. Sie nennen es die größte Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik. Hatten die Demonstrationen auf die anstehenden Landtagswahlen gar keinen Einfluss? 

Das ist schwer zu sagen. Demonstranten von damals können heute natürlich sagen: Wären wir nicht auf die Straße gegangen, wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Klar ist aber auch, dass die Erfolgserzählung der Proteste auf einer falschen Annahme beruhte: Hier protestiert die schweigende Mehrheit, ein Querschnitt der Bevölkerung. Deshalb werde sich die Stimmung auf der Straße auch an den Wahlurnen widerspiegeln. Das glaubten viele. Aber dort war kein Querschnitt der Bevölkerung zugegen. Unsere Erhebungen zeigen, dass die meisten Demonstranten aus dem linken Spektrum stammen und einen hohen Bildungsabschluss besitzen.

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„Auf den Demonstrationen fand keine Vermischung statt“

Während die AfD laut einer stern-Umfrage vor allem unter Arbeitern beliebt ist und bei jenen, die ihre finanzielle Lage als angespannt bezeichnen.

Auch in Teilen der Mittelschicht ist die AfD beliebt, beispielsweise unter Handwerkern. Diese Milieus waren bei den Demonstrationen aber kaum vertreten. Da fand keine Vermischung statt. Bei solchen Versammlungen wird meist die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lager signalisiert. Teilnehmer senden damit ein Signal an Freunde und Bekannte, markieren ihre Haltung. Demonstrationen sind kein Medium des Austauschs von Argumenten.

Eine Demonstrantin bei einer Kundgebung gegen Rechtsextremismus in Dresden am 25. August

In kleinen Städten in Sachsen standen den eher linken Demonstranten teilweise mehr rechte und rechtsextreme Gegendemonstranten gegenüber. Ein Erfolg für die AfD?

Ja, paradoxerweise hat der Demokratie-Protest mancherorts das AfD-Lager sogar gestärkt. Denn das selbstbewusste Auftreten der Pro-Demokraten hat die Gegenseite zu einer Reaktion provoziert und motiviert, jetzt ebenso Flagge zu zeigen. Das rechte Lager um die AfD ist schon lange keine kleine Minderheit mehr. Bei den anstehenden Landtagswahlen will fast jeder dritte Wähler für die AfD stimmen, eine bislang unerreichte Zahl.