Mehr als ein Jahrzehnt war er der Clown und Wortführer des DFB-Teams. Jetzt wirkt Thomas Müller im Hintergrund – als Moderator, der zwischen den Generationen in der Mannschaft vermittelt.
Seinen Spitznamen hat Thomas Müller über viele Jahre mit Stolz getragen. Er war ihm Schmuck und Verpflichtung zugleich, und wo immer Müller öffentlich auftrat, tat er alles, um ihn zu rechtfertigen. „Radio Müller“, so haben sie ihn genannt beim FC Bayern und auch in der Nationalmannschaft. Müller war ja stets auf Sendung, hier ein Spruch, dort ein Kommentar, kein Spiel, kein Training, das nicht von ihm betextet wurde.
Mitunter kippten Müllers Auftritte ins Comedyhafte, Kategorie Mario Barth. Müller schien gefangen in seiner Rolle und meinte auch dann liefern zu müssen, wenn er gerade keinen guten Gag auf Lager hatte. So war das bei der WM 2022, als er im Al Shamal Sports Club von Katar auf dem Podium saß und vor sich hin kalauerte, mit Niclas Füllkrug als Sidekick. Die WM wurde dann zu einem Desaster für die Nationalmannschaft, Knock-out bereits nach der Vorrunde, und Müllers Witzeleien wirkten schon bald unpassend. Sie waren der falsche Text für die neue Realität im deutschen Fußball.Zukunft_Nagelsmann 18.04
Radio Müller hat die Frequenz gewechselt
Am Dienstag betrat Thomas Müller erneut die Bühne. Die Nationalmannschaft weilt in diesen Tagen in Blankenhain, Thüringen, wo sie ihr erstes Trainingslager für die EM absolviert. Der Presseraum im Schloss Blankenhain war übervoll, Ausdruck einer kollektiven Erwartung, dass es wohl wieder „einen echten Müller“ geben würde. Ein paar Flapsigkeiten und ein bisschen Süffiges, aus dem sich dann mit leichter Hand eine Geschichte oder einen TV-Beitrag basteln ließe.
Müller aber lieferte nicht. Er enttäuschte sein Publikum mit einer Reife und Ernsthaftigkeit, wie man sie ihm kaum zugetraut hätte. Ein paar wohl gesetzte Spitzen hatte er zwar schon im Programm, zum Beispiel, dass er die jüngere Spielergeneration in der Kabine gelegentlich dazu ermahne, „auch mal ‚der, die oder das‘ in einen Satz einzubauen.“ Also nicht: Gib mal Handtuch. Sondern: Gib mal das Handtuch.
Ansonsten aber hatte Radio Müller die Frequenz gewechselt. Es läuft jetzt Klassik, das Erwachsenenprogramm. Müller, 34 Jahre, 128 Länderspiele, hat in der Nationalmannschaft in eine neue Rolle gefunden. Er gibt jetzt den Moderator, der das in Teilen sehr junge Team zusammenführt und auf die kommende EM ausrichtet. Er wolle daran erinnern, dass es in diesen Tagen „um mehr geht als um einen schönen Schlenzer in den Winkel.“ Dass große Erfolge nur durch eine Balance aus Arbeit und Spaß zu erreichen seien.
Thomas Müller: Freund der Jodler und Rapper
Dieses Gleichgewicht herzustellen, hat sich Müller nun zur Aufgabe gemacht. Er tut das nicht mit der Attitüde eines Alterspräsidenten, der den Jüngeren bloß die Schnurren vom WM-Sieg 2014 erzählt. Müller kann auch zuhören. Er finde es „interessant, in andere Leben reinzuschauen“, sagte er, und das ist auch Bundestrainer Julian Nagelsmann aufgefallen. Müller sei jemand, der sowohl mit den „Jodlern“ als auch mit den „Rappern“ in der Mannschaft könne, sagte Nagelsmann. Der sich also mit den Älteren wie Manuel Neuer, 38, Toni Kroos, 34, und Ilkay Gündogan, 33, versteht und zugleich einen Draht besitzt zu den jungen Hochbegabten wie Florian Wirtz, 21, oder Jamal Musiala, 21, Spitzname Bambi.
Trautes Heim in Blankenhain – so wohnt die Nationalelf in Thüringen 19:15
Müller hat nun einen komplizierten Job übernommen im Nationalteam. Er ist ein Führungsspieler, der nicht spielt – oder zumindest sehr wenig. Im deutschen Kader gibt es ein Überangebot an offensiven Kräften: Gündogan, Wirtz, Musiala, Sané, Havertz, Führich – da ist wenig Platz für einen wie Müller, der auch beim FC Bayern nur noch selten in der Startelf steht.
Müller hilft, wo gerade Not herrscht
Was Müller einbringen kann ins Spiel, ist Stabilität und Ordnung. Das Tempo von Wirtz, Musiala und Havertz aber kann er nicht mehr mitgehen. Müller wird der Mann für gewisse Momente sein bei der EM, er beherrscht alle Angriffspositionen inklusive der des Mittelstürmers und wird dort aushelfen, wo gerade Not herrscht. Eine kleine Rolle für jemanden, der mehr als ein Jahrzehnt Stammkraft im Nationalteam war.
Müller aber fügt sich, ohne Groll und Wehklage. Was in den Augen des Bundestrainers keine Selbstverständlichkeit ist. Bei anderen arrivierten Spielern hatte Nagelsmann nämlich Zweifel, ob sie bereit gewesen wären, eine Degradierung zu akzeptieren. Mats Hummels etwa, auch er ein Weltmeister von 2014, hat Nagelsmann nicht für die EM nominiert, obwohl der 35 Jahre alte Dortmunder eine herausragende Saison spielt und am Samstag mit dem BVB im Champions League-Finale gegen Real Madrid antritt. Ebenfalls ohne Einladung geblieben ist Leon Goretzka, 29, einer der besten Bayern-Spieler der Rückrunde. Beide aber gelten als sogenannte starke Charaktere, die man als Trainer tunlichst nicht auf die Bank setzen sollte. Könnte für schlechte Stimmung sorgen.
All dies ist von Thomas Müller nicht zu erwarten, obwohl dieser bei seinem Auftritt am Dienstag auch ein bisschen Eigenwerbung machte. Er habe mal in die Statistik geschaut, sagte Müller, und in der Kategorie „expected assists“ (erwartete, aber womöglich nicht gespielte Pässe), sei er noch immer „Top of the league“.
Dass Müller, der Mann des Wortes, am Ende seiner Karriere Zahlen bemühen muss, ist eine schöne Pointe. Eine, die Müller setzte, ohne zu bemerken, dass es sich um eine solche handelt.