J. Peirano: Der geheime Code der Liebe: Mein Freund und ich lieben das Abenteuer, aber er stoppt nicht, wenn ich Angst habe

Dass Paare nicht alle Leidenschaften gleichermaßen teilen, ist ein alter Hut. Bei Eva P. und ihrem Freund ist es der Sinn für Abenteuer – und das betrifft die gemeinsamen Urlaube. Während er ein „danger seeker“ ist, hat sie gelegentlich Angst um ihr Leben. Was rät Julia Peirano den beiden?

Hallo Frau Peirano,

ich bin 35 und mein Freund Yannick ist 37. Wir haben uns beim Surfen in Marokko kennengelernt und sind seit 4 Jahren zusammen. Wir haben eine tolle Beziehung, sind beide kreativ, haben einen großen (mittlerweile auch gemeinsamen) Freundeskreis, wohnen in einem lebendigen Stadtteil und reisen viel.

Die Reisen sind jetzt auch der Knackpunkt. Einerseits haben wir in den Jahren die besten Reisen meines Lebens gemacht. Wir waren drei Monate in Indien und Nepal, sind oft zum Surfen in Marokko, sind mit dem Fahrrad durch Uganda, Sambia und Botswana gefahren (inklusive Zelten), waren in abgelegenen Bergregionen in Osteuropa und in Mexiko. Alles möglichst abseits der touristischen Routen, auf eigene Faust und oft ungeplant.

Dabei haben wir fantastische Erlebnisse gehabt. Wir waren auf mehreren Hochzeiten eingeladen, haben absolute Einsamkeit und unberührte Natur erlebt, hatten insbesondere in Afrika sehr tolle Erlebnisse mit den Einheimischen.

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ABER: So einige Male hat mich das auch über meine Grenzen hinaus gebracht. Ich hatte in Situationen Angst, zum Beispiel als wir in Afrika plötzlich zu nah an einer Büffelherde waren (zu Fuß!) oder in Nepal auf ein Rudel wilde (tollwütige?) Hunde gestoßen sind. Einmal haben Demonstrierende in Indien eine Säurebombe in den Bus geworfen, in dem wir saßen. Sie ist zehn Zentimeter von meinem Gesicht entfernt durch den Bus geflogen und hat zum Glück niemanden erwischt. Aber eben fast! Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn.

Wir sind zweimal ausgeraubt worden, einmal in Mexiko abends auf der Straße, einmal ist unser Zelt durchwühlt worden und die gesamte Technik und das Geld wurden gestohlen. Es gab auch die Momente in den Bergen, wo der Weg zugewachsen war, wir nicht weitergekommen sind und Essen, Gas und Getränke nicht reichten.

Eebenso gab es Tage, an denen ich mir den Magen verdorben habe (meiner ist viel empfindlicher als der von Yannick und ich bekomme fast auf jeder Reise tagelang Durchfall) und keine Kraft hatte. Und: Bevor ich meine Tage bekomme, habe ich oft tagelang mit Stimmungstiefs und Krämpfen zu kämpfen.

Yannick ist total robust. Er kann überall schlafen, alles essen, friert selten, kann die Hitze ertragen, hat nie Angst (aus meiner Sicht ist das gefährlich!), hat immer Energie und selten Schmerzen. Für ihn sind die Reisen eine Art, sich auszuleben, extreme Situationen zu erfahren und zu überwinden.

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Ich bin viel risikobewusster und habe auch häufiger Angst. Einerseits bin ich total froh, dass ich mit Yannick meine Grenzen überwinden und so großartige Dinge erleben darf, die ich sonst nicht erleben würde. Aber ich habe in einigen Situationen sehr große Angst gehabt, z.B. als wir die Hunde gesehen haben, und Yannick hat dann kein Verständnis für mich. Er geht einfach weiter und sagt: „Wir können jetzt nicht umkehren, wir müssen da durch, die tun schon nichts.“ Und ich stehe vor Schreck erstarrt da und stelle mir vor, wie die Hunde mich angreifen und beißen, weil sie meine Angst riechen, und wie ich Tollwut bekomme. Und wenn ich krank oder schlapp bin, merke ich, wie nervös er ist, dass er nicht so schnell gehen kann, wie er gerne würde. Er nimmt wenig Rücksicht.

Es gab ein paar Situationen auf unseren Reisen, wo Yannick einfach sein Ding gemacht hat und überhaupt nicht auf meine Ängste oder meinen Zustand geachtet hat, und ich habe mich ausgeliefert und alleine gefühlt. Einmal haben wir eine andere Frau getroffen, die mich total verstanden hat und meinte, dass es ganz schön krass ist, was wir beide alles machen. Und da wurde mir erst bewusst, wie Yannick mich auch überfordert.

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Ich komme nicht an ihn heran, wenn ich mit ihm darüber sprechen will. Wir planen gerade unsere nächste Reise, und er sagt nur: „Das kann man doch vorher nicht alles planen. Wir sehen das dann in der Situation und sprechen es dann ab.“ Das ist mir aber zu vage, denn ich habe in dieser Hinsicht nicht mehr volles Vertrauen zu ihm. Ich würde gerne vorher die Reise genauer planen, insbesondere in den „gefährlichen“ Gebieten, aber davon will er nichts wissen. Das Ungewisse und das Abenteuer sind für ihn der ganze Reiz.

Ich habe jetzt ein mulmiges Gefühl, mit ihm einfach ein Flugticket nach Venezuela zu buchen und alles vor Ort zu entscheiden. Irgendwie ist die Sache nicht geklärt, und es geht ja auch um mich und meine Sicherheit.

Haben Sie einen Rat?
Eva P.

Bio Julia Peirano

Liebe Eva P.,

zum Einen klingt es unglaublich spannend, wie Sie und Ihr Freund zusammen leben und was für intensive Erfahrungen in völlig anderen Teilen der Welt Sie schon gemacht haben!

Zum Anderen kann ich aber auch gut nachfühlen, dass einige dieser Erfahrungen Sie nicht nur an Ihre Grenzen, sondern auch darüber hinaus gebracht haben, und dass Sie sich bedroht, allein gelassen und ausgeliefert gefühlt haben.

Ich sehe, dass Sie beide (wie viele andere Menschen auch) in der zivilisierten und überbevölkerten Lebenswelt vieles vermissen: unberührte Natur, in der man tagelang keinen anderen Menschen trifft; wilde Tiere (solange man sie mit einer gewissen Distanz sieht und nicht von einer aufgeregten Büffelherde angegriffen wird), Menschen aus anderen Kulturen, die weniger gesättigt und reizüberflutet sind, sondern offener und ursprünglicher; und auch Nervenkitzel.

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Anscheinend sind Yannick und Sie in dem letzten Punkt doch unterschiedlich, und das ist in Ihrer Persönlichkeit verankert. In dem klassischen „Big Five“-Persönlichkeitsmodell gibt es eine Persönlichkeitseigenschaft, die „Offenheit für Erfahrungen“ heißt und aussagt, wie interessiert eine Person an neuen Begegnungen, dem Austausch mit anderen Kulturen und Erfahrungen wie z.B. einem exotischen Essen ist. Sie beide scheinen hier eine hohe Ausprägung zu haben und generell offen zu sein, z.B. zu einer indischen Hochzeit eingeladen zu werden oder sich mit Dorfkindern in Botswana zu unterhalten.

Aber darüber hinaus gibt es noch ein Persönlichkeitsmerkmal, das „Adventure Seeking“, also Abenteuersuche heißt und die Neigung beschreibt, riskanten Sport zu treiben oder aufregende, gefährliche Unternehmungen zu suchen. Und hier unterschieden Sie sich von Yannick. Er hat eine hohe Ausprägung, Sie nicht. Sie möchten zwar die Erfahrungen und Begegnungen mit Natur und den Menschen, aber Sie wollen (verständlicherweise) unverletzt und wohlbehalten nach Hause kommen.

Yannick hingegen scheint mit der Gefahr mitunter auch zu flirten oder sie zumindest aufzusuchen, spürt Angst nicht, hat wenig körperliche Einschränkungen oder Grenzen (scheint unverwundbar) und ist möglicherweise auch schneller gelangweilt von „normalen“ Erlebnissen als andere Menschen, sodass er stärkere Reizstimulation braucht. Er unterschätzt Gefahren oder blendet sie aus.

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Zu Menschen mit hoher Abenteuersuche gehört, dass sie keine Routinen mögen (also die Reise nicht vorher planen wollen), sich nicht einschränken oder belehren lassen wollen (z.B. von Reisebüchern oder Warnungen von Autoritäten oder von Ihnen), und oft Aktivitäten auswählen, die andere um sie herum beängstigen (der höchstgelegenste Wanderweg durch das Lawinengebiet, die schwierigste Kletterroute etc.).

Yannick scheint also mit einem anderen Bedürfnis auf Reisen zu gehen: Er sucht das Abenteuer, will starke Reize, möchte sich nicht einschränken lassen, sondern seinen Impulsen folgen und intensive Situationen erleben. Da ist eine Büffelherde, eine Gruppe wilder (tollwütiger?) Hunde oder eine Säurebombe kein Hindernis und steigert womöglich noch den Kick. Yannick findet das positiv, weil endlich mal etwas Aufregendes passiert. Dabei verspürt er wenig Angst oder blendet sie aus. Für ihn ist nicht die Angst quälend, sondern eher eine Unterstimulation im Sinne von Langeweile.

Sie hingegen sehen die Gefahren, stellen sie sich vorher vor, wenn sie die Risiken abschätzen und erleben Angst. Denn Sie bekommen keinen Kick aus dem Abenteuer, sondern aus den neuen Erfahrungen, die aber für Sie noch im einigermaßen angenehmen und sicheren Bereich sein sollten, damit Sie sich wohlfühlen. Von außen betrachtet sind Ihre Reisen auch sehr wild und experimentell, und längst nicht jede:r würde das mitmachen und genießen. 

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Sie verlassen also die Komfortzone (Zelt statt Bett, nehmen Durchfall in Kauf, strapazieren sich körperlich), aber da, wo die Gefahr für Ihre Sicherheit oder Ihr Leben anfängt, sind Sie (verständlicherweise) alarmiert und legen den Rückwärtsgang ein. Während Yannick mit seiner Abenteuersuche in Gefahrensituationen nach vorne prescht und eine Art Tunnelblick entwickelt, indem er nicht mehr auf Sie eingehen kann oder will.

Und so kommt es zum Aufeinanderprallen von Verhaltensmustern oder von Persönlichkeiten und letztendlich zum Verlust von Vertrauen, denn es entsteht Gefahr für Leib und Leben, und Yannick bringt Sie zum Teil in diese Situationen und lässt Sie damit alleine!

Ich würde Ihnen zum Einen raten, dass Sie wieder ausschließlich Ihrer eigenen Wahrnehmung und Gefahreneinschätzung trauen und sich von Yannick Verhalten nicht verunsichern lassen. 

Reisen in entlegene Gebiete können böse enden. Ich hatte selbst einmal einen Reitunfall in Mexiko, bei dem ich rückwärts gestürzt bin und mir das Pferd (ca. 500 kg) auf mein Becken gefallen ist. Mein Becken war gebrochen, kein Krankenhaus, geschweige denn eines, in das ich hätte gehen wollen, war in Sicht, und letztlich war dann schlagartig die Lust am Abenteuer vorbei und ich wollte nur noch nach Hause und in Sicherheit sein. Es ist ein Wunder, dass ich keine bleibenden Schäden davongetragen habe! Solche Geschichten gibt es viele, es geht nicht alles gut aus und wird zu einer tollen Anekdote. 

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Bleiben Sie also bei sich und der Realität. Lassen Sie sich nicht von Yannicks verzerrter Gefahreneinschätzung beeinflussen. Informieren Sie sich – und idealerweise Yannick – über das Merkmal „adventure seeking“. 

Empfehlenswert ist der Film „Free solo“ von Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin (bei Amazon käuflich oder leihweise erhältlich), in dem der ungesichert kletternde Alex Honnold freihändig unter Lebensgefahr die Steilwand El Capitan bewältigen will. Es wird auch die Gefühlslage und die Haltung seiner Freundin porträtiert, was für Sie bestimmt interessant ist.

Zu zukünftigen Reisen könnte es eine Idee sein, dass Sie doch auf eine größere Planung bestehen bzw. sich selbst so intensiv belesen und informieren, bis Sie zufrieden sind. So könnten Sie auch entscheiden, welche Etappen der Reise Sie nicht mitmachen wollen. Und dann muss Yannick sehen, ob er alleine loszieht (z.B. nachts durch eine südamerikanische Stadt streifen will) oder verzichtet.

Eine Alternative wäre es, die Risikoeinschätzung für gefährliche Etappen an einen ortskundigen (Berg-)Führer zu übertragen. Dann ist für die Rahmenbedingungen wie die Route, die Verpflegung und Ausrüstung gesorgt. Der Führer ist für Ihre Sicherheit verantwortlich, hat Erfahrung mit den Bedürfnissen und Grenzen von europäischen Touristen und wird deshalb riskante Routen vermeiden. Ebenso wüsste er, wie nah man an Büffelherden herangehen darf und wo Gefahren lauern. Aus meiner Sicht wäre das ein guter Kompromiss, damit Sie gemeinsam reisen können, aber Sie sich nicht gefährden oder gefährdet fühlen.

Ich hoffe, dass Sie für sich eine gute Lösung finden können! Denn es geht um den Schutz Ihres Lebens und Ihre Sicherheit – und nicht immer gehen Abenteuer gut aus.

Herzliche Grüße
Julia Peirano

 

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