Karl Lauterbach zeigt sich überrascht vom Anstieg der Zahl Pflegebedürftiger. Diese sei „plötzlich“ gestiegen. Experten halten die Aussagen über „explosionsartiges“ Anwachsen für falsch.
Die Zahl der Pflegebedürftigen ist in Deutschland im vergangenen Jahr laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach deutlich stärker gestiegen als gedacht. „Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50.000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360.000“, sagte der SPD-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau.“ In der Pflegeversicherung gebe es „ein akutes Problem“.
Im letzten Punkt widerspricht wohl niemand Lauterbach. Die Pflege im Heim wird immer teurer. Die Zuzahlungen für Pflegebedürftige sind trotz Entlastungszuschlägen zuletzt weiter gestiegen. Zum 1. Januar waren im ersten Jahr im Heim im bundesweiten Schnitt 2576 Euro Eigenbeitrag pro Monat zu zahlen. Das sind 165 Euro mehr als Anfang 2023.
Wie aber kann es sein, dass sich ein Minister, beziehungsweise sein gesamtes Ministerium, derart verschätzen und den Zuwachs Pflegebedürftiger im letzten Jahr um über 300.000 Menschen nicht kommen sahen?
Laut Karl Lauterbach sind Demografie-Effekte ursächlich
„In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen“, sagte Lauterbach. Er gehe von einem Sandwicheffekt aus. „Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern“, lautet Lauterbachs Einschätzung.Pflegeversicherung 06.35
Im Interview mit dem stern widerspricht Gesundheitsexperte Prof. Heinz Rothgang der Einschätzung Lauterbachs, die Zahlen seien explosionsartig und plötzlich und unerwartet gestiegen. Dies sei schlicht „Unsinn. Es gibt seriöse Zahlen – veröffentlicht durch die GKV (dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen; Anmerkung der Redaktion) – für die vergangenen Jahre, die seit 2017, dem Jahr der Pflegereform, einen Anstieg von durchschnittlich 326.000 Personen jährlich belegen. Eine etwas geringere Zahl gab es lediglich für den Zeitraum der Coronajahre.“
Dem pflichtet auch Florian Lanz, Sprecher des GKV, im Gespräch mit dem „Tagesspiegel“ bei: In der Zahl von durchschnittlich 326.000 seien “ jedes Jahr rund 50.000 Personen, deren Antrag auf Pflegeleistungen sich direkt aus der demografischen Entwicklung ableiten ließe“, enthalten. Der Anstieg ist demnach also nicht durch einen demografischen Wandel erklärbar, denn dieser ist bereits eingepreist.
Baby-Boomer-Effekt
Wie steht es aber um Lauterbachs Theorie, die sogenannten Baby-Boomer, also die Altersgruppe der zwischen 1946 und 1964 Geborenen, habe zu der Zahlenexplosion beigetragen? Sie würden schließlich von der gestiegenen medizinischen Qualität der letzten Jahre besonders profitieren. Es gebe bei ihnen eine Vielzahl von Erkrankungen oder Verletzungen, mit denen Menschen früher nicht lange überlebt hätten. Also würde auch die Zahl junger Pflegebedürftiger steigen, so Lauterbach.stern PAID Kommentar Ärztemangel 10:33
Für Janssen ist das nicht überzeugend: „Medizinischen Fortschritt gibt es, seit es Medizin gibt und nicht erst seit drei Jahren“, konstatiert er im „Tagesspiegel“. Auch Carola Engler vom Medizinischen Dienst Bund argumentiert im selben Medium beipflichtend: 2023 habe es einen deutlichen Zuwachs der Erstanträge von 1,19 auf 1,35 Millionen gegeben, aber dieser Zuwachs habe über alle Altersgruppen hinweg stattgefunden „und lässt sich nicht auf die Baby-Boomer begrenzen“.
Wie aber käme man für die Zukunft zu einer realistischeren Prognose, um vor „plötzlichen Anstiegen“ gewappnet zu sein? „In dem man einfach die veröffentlichten Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes zugrunde legt“, so Rothgangs Einschätzung. „Ausgehend von den aktuellen Werten ist – bei aller Vorsicht in Bezug auf Unwägbarkeiten wie Pandemien, Migrationsereignisse etc. – von einer stetigen Zunahme der Zahl Pflegebedürftiger bis etwa zum Jahr 2070 auszugehen.“
Quellen: RND, „Tagesspiegel“ (Bezahlinhalt), mit DPA