Khloe Kardashian, Joe Biden, Jennifer Lopez: Sie alle bezeichnen sich bei TikTok und Co. plötzlich als „demure“. Woher kommt der neue Trend, und was bedeutet er überhaupt?
Auf TikTok wird gerade eine neue Lebensphilosophie praktiziert: Sie besteht darin, möglichst sittlich und achtsam zu sein, und zwar bei allem, was man macht. Das gilt zum Beispiel beim Friseurbesuch, beim Abendessen oder auch beim Putzen der Wohnung.
Dafür filmt man sich selbst im Alltag, beim Kochen oder Schminken oder Ausgehen, und kommentiert dabei in die Kamera: „Very demure, very mindful.“ Auf Deutsch heißt das so viel wie „sehr sittlich, sehr achtsam“. Wer „demure“ ist, verhält sich also ruhig und bedacht, ist möglichst unauffällig und angepasst, vielleicht auch ein bisschen schüchtern. Oft werden mit dem Begriff aufgeräumte, zurückhaltende Frauen beschrieben, die nicht aus der Reihe tanzen.
J.Lo trinkt „very demure“ eine Limo
Das scheint auf auf andere abzufärben und vor den Geschlechtern nicht Halt zu machen. Auf TikTok gibt es inzwischen Clips von Ehemännern, die sittlich das Abendessen vorbereiten, von Influencern, die achtsam Bacon-Sandwiches zubereiten. Auch Hollywood-Stars halten sich an die neue alte Sitte: Jennifer Lopez trinkt in einem Video „very demure“ eine Limo: Sie nimmt einen Schluck nach dem anderen, anstatt die ganze Flasche auf einmal auszutrinken.
Khloe Kardashian filmt sich, während sie von ihren Stylisten geschminkt wird, auch das ist selbstverständlich „very demure“. Sie sagt: „Seht ihr wie ich hier sitze? Sehr ladylike, sehr achtsam, sehr sittlich.“
Sogar die US-Regierung lässt diesen Internet-Trend nicht vorüberziehen, ohne damit zielgruppengerechte Werbung für sich zu machen. US-Präsident Joe Bidens Social Media Team verkündet am Samstag unter einem Instagram-Post: „Erlass der Studienkredite von fast 5 Millionen Amerikanern durch verschiedene Maßnahmen. Sehr achtsam. Sehr sittlich.“
Aber was genau soll das bedeuten? So richtig hat wahrscheinlich niemand mehr den Durchblick: Macht sich der Trend über den Begriff „demure“ lustig? Über die Menschen, die ihn ernst nehmen? Oder steckt vielleicht doch eine ganz unironische Sehnsucht nach Ordnung und Zurückhaltung dahinter?
TikTokerin Jools Lebron startete den Trend
Angefangen hat jedenfalls alles mit einem Video der TikTokerin Jools Lebron. Eigentlich ist sie bekannt für Make-Up-Tutorials und ihre Puppen-Sammlung. Vor etwa zwei Wochen postete sie auf der Plattform ein Video mit dem Titel: „How to be demure and modest and respectful at the work place. Auf deutsch: „Wie man am Arbeitsplatz sittsam, bescheiden und respektvoll ist.“
Sie sitzt in ihrem Auto und erklärt das Konzept so: „Seht ihr, wie ich mich für die Arbeit schminke? Sehr sittlich. Sehr achtsam. Ich gehe nicht mit grünem Augen-Make-up zur Arbeit. Ich sehe nicht wie ein Clown aus, wenn ich zur Arbeit gehe. Ich mache nicht zu viel. Ich bin sehr achtsam, wenn ich bei der Arbeit bin. Ihr seht, dass ich sehr vorzeigbar aussehe.“
Darauf folgen zahlreiche Clips, die wie kleine Tutorials ihre sittliche Lebensweise zeigen: „So bestelle ich zurückhaltend Essen auf mein Hotelzimmer“ (mit möglichst vielen Kalorien), oder „Wie man möglichst sittlich ein Getränk am Flughafen trinkt“ (mit Whiskey auf Eis anstoßen).
Das ist natürlich alles ironisch gemeint. Lebron bezeichnet sich selbst als sittlich, als zurückhaltend und ordentlich, während sie möglichst fettig isst, auffälliges Make-Up trägt und es feiert, nicht in alle Normen zu passen. Sie ist trans, dick und stark geschminkt – also alles, was die klassisch angepasste und wohlerzogene Frau eigentlich nicht sein darf.
Sittlich wie der „brat summer“
Diese neue Sitte schließt perfekt an einen anderen großen Internet-Trend aus den vergangenen Monaten an: den „brat summer“. Ausgerufen hatte den die britischen Pop-Sängerin Charli XCX, um ihr neues Album „brat“ zu vermarkten. Brat heißt so viel wie Göre, und der Trend fordert dazu auf, sich wie eine zu verhalten: Also die ganze Nacht durchtanzen und den ganzen Tag mit verschmiertem Make-Up im Bett liegen.
Im Grunde genommen machen sich all die brats und sittlichen TikTokerinnen über Erwartungshaltungen an Frauen lustig, sie bieten einen Gegenentwurf zu Selbstoptimierungs-Trends im Internet. Vielleicht haben sie so tatsächlich ein bisschen politische Wirkkraft, können Frauen ermutigen, weniger perfekt sein zu müssen. Vielleicht sind diese Videos – wie das meiste im Internet – auch nur Unterhaltung.
Zumindest für Lebron ist ihr virales TikTok-Video schon jetzt lebensverändernd: In einem Video sagt sie mit Tränen in den Augen: „Ich bin so überfordert und dankbar. Ich habe so viel zu tun, aber ich lebe meinen Traum.“
Die TikTokerin war inzwischen in der Jimmy Kimmel Late Night Show und wurde auf Veranstaltungen von Kosmetikmarken eingeladen. Mit dem Geld, das sie durch das Video verdiene, könne sie sogar ihre Geschlechtstransition bezahlen, sagt sie. Ihre Fans finden das natürlich „very demure, very mindful“.