Bewegungsloses An-die-Wand-Gestarre – der neue Reisetrend „Rawdogging“ treibt absurde Blüten. Jegliche Form von Zerstreuung ist verpönt. Der stundenlange Verzicht soll die Mentalität stärken. Klappt das?
Es sind schwere Zeiten für die Langeweile. Die Welt ist schnell und laut geworden und unsere Hirne von der Informationsflut und den Zerstreuungsmöglichkeiten zugemüllt. Ein Moment der Ruhe ist in diesem Unterhaltungsdschungel schwer zu finden – oder auszuhalten. Irgendetwas ist schließlich immer. Wenn es nicht das neueste Reel des Lieblingsinfluencers ist, dann die noch ungehörte Podcastfolge oder eine Serie, die man bisher verpasst hat. Nur Zeit für das Sein selbst, das bleibt dabei auf der Strecke. Immer mehr Menschen, in erster Linie sind es Männer, wollen sich aus dem Strudel der Ablenkungen nun freischwimmen. Zeitweise zumindest. Sie rufen einen neuen Reisetrend aus, das „Rawdogging“.
Der Begriff „Rawdogging“ war bisher als umgangssprachliche Bezeichnung für ungeschützten Sex ohne Kondom bekannt. Ein Revival dieser Verantwortungslosigkeit verbirgt sich allerdings nicht hinter dem neuen Reisetrend. „Rawdogging“ ist keine Mitgliederwerbung für den Mile High Club, es handelt sich weder um verbotene Liebesspiele im Flugzeug, noch um Sex in irgendeiner Form. Ganz im Gegenteil. Das Einzige, was die Neuinterpretation mit der alten Zuschreibung gemein hat, ist das Weglassen eines Schutzes oder Unterstützung. Es geht um eine Art Askese, den kurzzeitigen Verzicht auf scheinbar so gut wie alles außer das Atmen. Ein Erkennungszeichen von Rawdoggern: stundenlanges Starren ins Nirgendwo.Bed Rotting – wie uns ein Tiktok-Trend aus der Produktivitätsspirale holen soll 16.18
„Rawdogging“ oder die Abkehr von der Zerstreuung
Wie so viele Trends ist auch das „Rawdogging“ einer, der hauptsächlich von der Verbreitung über Soziale Medien lebt. Auf Tiktok oder Instagram gehen Videos von Männern viral, die ihre Flugreisen fürs Nichtstun nutzen. Stundenlang auf die Lehne des Sitzes vor sich glotzen, nicht reden, nichts lesen, nichts gucken, nichts hören. Selbst auf die Bordverpflegung oder den Gang auf die Toilette verzichten manche. Sie haben sich für die Dauer der Flugreise ganz der Aufgabe verschrieben, jeglicher Zerstreuung zu entsagen. Und das über Stunden. Durch den Detox soll auch der Geist gereinigt, mehr Klarheit erlangt werden. Die Säulen auf die der Trend vermeintlich fußt: Disziplin, Willenskraft und Selbstbeherrschung.
Einer von diesen Rawdoggern ist Damion Bailey. Anfang August teilte der 34-Jährige US-Amerikaner auf Instagram die Nachricht, seine persönliche Bestleistung geknackt zu haben. Er gab an, einen dreizehneinhalb Stunden langen Flug ohne irgendeine Form der Unterhaltung überstanden zu haben. Der australische Musik-Produzent Torren Foot wollte gar 15 Stunden geschafft haben, selbst Star-Fußballer Erling Haaland prahlte, mit Leichtigkeit ohne Telefon, Schlaf, Wasser oder Essen durch sieben Stunden Flug gekommen zu sein. Es ist nicht der erste Social-Media-Trend, zu dem Haaland sich hinreißen lässt. Er nahm auch schon am umstrittenen „Mouth Taping“ teil (mehr dazu hier). Gefeiert werden die „tapferen“ Männer dafür vor allem von anderen Männern. Am toughesten ist selbstverständlich der, der am längsten durchhält.
Schwachsinniger Reisetrend oder smarter Digital Detox?
Dass die Dauerbeschallung durch Soziale Medien und dem nicht abebbenden Nachrichtenstrom negative Effekte auf die Gesundheit haben kann, beispielsweise unsere Aufmerksameitsspanne immer kürzer wird, wurde wissenschaftlich bereits belegt. Die konstante Überstimulation kann Stress verursachen und sogar dem Einfühlungsvermögen abträglich sein. Das Blaulicht von Bildschirmen kann Symptome wie Kopfschmerzen und trockene Augen verursachen. #Boysober: Warum immer mehr Frauen von Männern entgiften 21:04
Pausen sind wichtig für das Gehirn, keine Frage. So plädiert unter anderem Alex Soojung-Kin Pang für Ruhezeiten, damit sich das Gehirn erholen, Informationen verarbeiten und Zusammenhänge herstellen kann. Eine richtige Pause, meint er, mache uns kreativer und produktiver. Der Wissenschaftler hat das Buch „Pause“ geschrieben. Schon 2015 zeigte auch Neurowissenschaftlerin Imke Kirste, dass im Gehirn bei völliger Stille wichtige neue Zelle gebildet werden können.
Es gibt auch Studien, die darauf hindeuten, dass eine Auszeit von der digitalen Welt dabei helfen kann, das Wohlbefinden zu steigern und abzuschalten. Dadurch soll sich die Schlafqualität und das Konzentrationsvermögen verbessern. Es entsteht Raum für die Auseinandersetzung mit dem Selbst. Es gibt aber auch Hinweise, dass eine Entgiftung dazu führen kann, dass Menschen negative Gefühle entwickeln, fürchten, etwas zu verpassen oder sich ausgeschlossen fühlen. Richtig wissenschaftlich belastbar ist die Forschung zu Digital Detox jedoch bisher nicht.
„Rawdogging“ steht im Ursprung eigentlich für nichts anderes als das pure unverfälschte Erleben. Im Fall des Fluges wäre das zum Beispiel das bewusste Wahrnehmen davon, wie es sich anfühlt, zehntausende Meter über dem Boden von A nach B zu reisen. Der Blick aus dem Fenster, der die Sicht auf die Welt aus der Vogelperspektive möglich macht. Das Kosten der Speisen an Bord, die so weit oben in der Luft anders schmecken. Stundenlang mit schockstarren Augen auf einen Punkt zu starren, einem abgeschaltenen Roboter gleich möglichst nicht einmal ein Muskelzucken zuzulassen und die Blase bis zum Äußersten zu strapazieren, ist vor allem eines: radikaler Quatsch. Im schlimmsten Fall riskiert man sogar eine Thrombose.
Quelle: Max-Planck-Institut, Internationale Hochschule, Studie zu Digital Detox, Durham University, Wirtschaftswoche, BBC