Selbstverletzung: Wenn das Kind sich ritzt: Was Eltern tun sollten – und was nicht

Selbstverletzung zu beobachten, ist für Eltern meist ein Schock: Der Teenager reißt sich Haare aus, ritzt sich oder verbrennt sich die Haut. Welche Ursachen hat das Verhalten? 

Meist fängt es mit kleinen Verletzungen und harmlosen Quälereien an: Mit einem Faden um den Finger, der das Blut so lange staut, bis der Finger ganz weiß wird. Mit einem Feuerzeug, das die Haare auf der Haut absengt. Ein paar ausgerissene Haare. Sich selbst verletzen – mehr als ein Viertel der Jugendlichen in Deutschland tut dies einmal im Leben. Bei einigen wird jedoch ein dauerhaftes Problem daraus. Die Verletzungen werden schwerer, die Schmerzen intensiver, es entstehen Narben. Manchmal sind die Wunden sogar lebensbedrohlich. 

Was ist nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV)?

„Die Jugendlichen wollen sich jedoch meist nicht das Leben nehmen, sie nutzen den Schmerz als Blitzableiter für emotionalen und körperlichen Stress“, sagt Simone Pfeuffer, Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Die Medizin bezeichnet das Verhalten daher als nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV, oder im Englischen NSSI). Es ist meist Ausdruck einer Emotionsregulationsstörung, keine Erkrankung, sondern ein Symptom einer dahinterliegenden, psychischen Störung (z. B. Angststörungen, Depressionen, Essstörungen und Emotional-Instabiler-Persönlichkeitsstörung). Nur selten tritt das selbstverletzende Verhalten isoliert auf.

NSSV ist ein häufiges, aber ernstzunehmendes Phänomen, das vor allem Jugendliche und junge Erwachsene betrifft. Zwischen 15 und 16 Jahren ist die Gefahr am größten. Und es scheint ein „deutsches Problem“ zu sein, denn im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Deutschland Spitzenreiter.

Wie verletzen sich die Jugendlichen?

Meist sind die Verletzungen anfangs harmlos: Die Jugendlichen beißen sich in den Arm, kratzen sich mit Scheren und Messern, reißen sich einzelne Haare aus oder zupfen immer wieder an der Nagelhaut. Manchmal werden die Verletzungen mit der Zeit heftiger: Die Teenies schneiden sich mit Rasierklingen in Arme, Beine und Bauch, sie verbrennen sich mit Zigaretten oder Feuerzeugen, verbrühen sich mit kochendem Wasser. „Jungen und junge Männer wenden eher vermeintlich männliche Verletzungsmethoden an: Sie schlagen sich selbst oder sie schlagen den Kopf an die Wand“, sagt Simone Pfeuffer. Manchmal beobachten Ärztinnen und Ärzte sogar, dass die Betroffenen ätzende Flüssigkeiten trinken oder bereits verheilende Wunden immer wieder aufkratzen, bis sie sich entzünden.

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Wie verbreitet ist Selbstverletzung?

In einer Befragung unter Schülerinnen und Schülern gaben 25 bis 35 Prozent an, bereits Erfahrungen mit Selbstverletzung zu haben, 12 Prozent schneiden und ritzen sich häufiger. „Mädchen sind 1,5 mal häufiger betroffen“, sagt Simone Pfeuffer. „Aber auch bei Jungen steigen die Zahlen von selbstverletzendem Verhalten an.“ Erwachsene scheinen sich hingegen relativ selten zu ritzen, zu schlagen oder zu verbrennen – in einer Stichprobe gaben nur 0,3 Prozent zu, sich selbst zu verletzen.

Was sind die Gründe für NSSV?

Die Verletzungen sind für die Betroffenen meist ein Ventil, um negative Gefühle loszuwerden. Autoaggression wirkt wie eine Art Droge, eine Art Rausch, da der Schmerz kurzzeitig von psychischen Problemen ablenkt und Endorphine, Glückshormone, ausschüttet. „Das Schneiden und Ritzen stellt kurzfristig eine Entlastung und Erleichterung dar, um den damit verbundenen Schmerz besser zu spüren“, erklärt Kinder– und Jugendpsychiaterin Simone Pfeuffer. „Außerdem haben die Betroffenen das Gefühl, Kontrolle über den eigenen Körper zu erhalten.“ Manche beschreiben das Ritzen, Picken, Schlagen als „wohltuend“ und „befreiend“. An den eigentlichen Ursachen des NSSV ändert sich dadurch nichts, da das zugrundeliegende Problem bestehen bleibt.

Was sind die Gründe für nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV)?

Die Ursachen für NSSV sind vielschichtig, meist steckt eine Gefühlsregulationsstörung dahinter. Die Selbstverletzungen sind also ein Hilfeschrei, mit dem die Jugendlichen einen großen psychischen Druck loswerden wollen. Oft stecken Traumata in der Kindheit dahinter:

Konflikte in der Kindheit und JugendSexueller MissbrauchMisshandlungenKörperliche und psychische Vernachlässigungpsychische Probleme wie eine Borderline-Störung, Depressionen, Angst- oder Essstörungen

Risikofaktoren sind auch, wenn Eltern alkoholabhängig sind, eine untherapierte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben, viel Selbstkritik üben, wenig Struktur haben und Gewissenhaftigkeit zeigen.Bei vielen bleibt die NSSV aber auch im Verborgenen, sie verletzten sich an Stellen, die nicht gesehen werden oder sie tragen immer langärmelige Kleidung. Die Betroffenen haben oft das Gefühl, die Verletzungen verdient zu haben und sich nur durch das selbstverletzende Verhalten von ihren seelischen Qualen befreien zu können. 

Warum werden die Verletzungen immer schwerer und extremer?

Nicht bei allen Betroffenen steigert sich der Schweregrad der Verletzungen. „Oft ist es nur ein Hilfeschrei: Schaut her, es geht mir nicht gut“, erklärt Pfeuffer. „Doch manchmal bleibt es nicht dabei und nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten wird ohne psychologische Behandlung ausgeprägter.“ Der Grund: Bestimmte Verletzungen und Schmerzen kennt der Körper bereits, die Betroffenen empfinden sie nicht mehr als etwas „Außergewöhnliches“ und „Befreiendes“. Daher werden die Schnitte immer tiefer, die Verletzungsmethoden schwerer, die Griffe zur Rasierklinge immer häufiger. Die Betroffenen verspüren einen echten Drang, sich selbst zu verletzen.

Hat Selbstverletzung Auswirkungen auf den Alltag der Jugendlichen?

Der Drang sich selbst zu verletzen bestimmt vieles. Oft wird er mit der Zeit als einziger Ausweg aus einer schwierigen Situation gesehen. „Die Betroffenen verlieren oft die Fähigkeit, schwierige Situationen auszuhalten oder anderweitig zu verarbeiten – zum Beispiel durch entspannende Maßnahmen wie einen Spaziergang, Meditation oder Sport“, sagt Expertin Pfeuffer. „NSSV wird als einzige Lösung angesehen und die Betroffenen gehen damit auch einer wichtigen Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden Thema aus dem Weg.“

Welche Rolle spielen soziale Medien bei der Entstehung von NSSV?

Der Freundeskreis im echten Leben und die sozialen Medien können vor allem „anstecken“ – also Jugendliche mit nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten in Berührung bringen. „Ob jemand dann weitermacht, hängt vom Selbstwertgefühl oder der Psyche ab“, sagt Simone Pfeuffer. Auch bestimmte Jugendgruppen scheinen sich häufiger selbst zu verletzen.

Wie erkennt man nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten?

Meist sind es sehr viele Verletzungen an einer Körperstelle, zum Beispiel den Armen, den Beinen, der Brust oder dem Bauch. Die Narben reihen sich aneinander, manchmal in geometrischen Symbolen, Buchstaben oder sogar Wörtern. Meist sind die Jugendlichen jedoch gut im Verstecken der Narben. Daher sollten Angehörige oder Freunde sehr aufmerksam sein und auf konkrete Signale achten:

Der Teenager trägt auch im Sommer lange Ärmel und lange Hosen. Er achtet penibel darauf, dass sie nicht hochrutschen.Er verbringt viel Zeit im Badezimmer und zieht sich auch sonst zurück: Er möchte Hobbys nicht mehr nachgehen und auch nicht mehr an gemeinsamen Familienreisen teilnehmen.Er will sich nicht nackt zeigen und geht nicht mit ins Schwimmbad oder an den Strand.In seinem Zimmer versteckt er Desinfektionsmittel, Pflaster und Verbandsmaterial. Es könnten sich dort aber auch Gegenstände finden, mit denen er sich verletzt: Feuerzeuge, Messer, Kerzen, Rasierklingen.Entdeckt ein Außenstehender die Schnittwunden, kann der oder die Betroffene sie nicht plausibel erklären. 

Warum muss Selbstverletzung schnell behandelt werden?

Für Eltern oder Freunde ist es oft sehr schwer, nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten zu erkennen, da sich die Jugendlichen schämen und die Spuren der Verletzungen verstecken. Meist bleibt es auch dabei, dass Jugendliche die Selbstverletzung einmal ausprobieren. „Da sich NSSV jedoch manifestieren kann und im Laufe der Zeit immer schwerer wird, sollte man frühzeitig reagieren“, sagt Psychiaterin Pfeuffer. „Dann können leichter Verhaltensweisen geübt werden, die eine ähnliche, aber weniger schädliche Erleichterung der negativen Gefühle bringen.“ Außerdem liegt meist eine psychische Erkrankung zugrunde, die therapiert werden muss.

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Wie sollte man reagieren, wenn man den Verdacht hat, dass sich jemand selbst verletzt?

Auch wenn es für Eltern ein großer Schock ist, wenn sie erkennen, dass sich ihr Kind selbst verletzt, sollten sie ruhig bleiben und nicht in Panik verfallen. „Wichtig ist es jetzt, mit dem Kind in Kontakt zu kommen und dies auch zu bleiben“, sagt Psychiaterin Simone Pfeuffer.

Sprechen Sie Ihr Kind vorsichtig in einer ruhigen Situation an und formulieren Sie Ihren Verdacht, dass es sich selbst verletzt.Formulieren Sie keine Vorwürfe und machen Sie keinen Druck. Setzen Sie kein Ultimatum mit dem selbstverletzenden Verhalten aufzuhören, bieten Sie lieber Ihre Unterstützung an und zeigen Sie, dass Sie Ihr Kind lieben. Machen Sie deutlich, dass Sie Verständnis für die Situation haben und dass es immer möglich ist, Hilfe zu bekommen: „Wir kriegen das hin, ich helfe dir!“Möchte Ihr Kind nicht mit Ihnen über die Selbstverletzung sprechen, seien Sie nicht enttäuscht und machen Sie keine Vorwürfe. Bieten Sie lieber Unterstützung durch andere Stellen an: Freundinnen und Freunde, Beratungsstellen, Psychologinnen oder Psychiater, eine ausgewählte Klinik. Oft fällt es leichter, sich fremden, unbeteiligten Menschen zu öffnen.Machen Sie sich selbst keine Vorwürfe, Sie haben nichts falsch gemacht, wenn sich Ihr Kind selbst verletzt – aber begleiten Sie Ihr Kind auf dem Weg bei der Therapie des zugrundeliegenden psychischen Problems.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es bei nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten?

Ein Kinder- und Jugendpsychiater oder eine Kinder- und Jugendpsychotherapeutin kann frühzeitig wirksam intervenieren. Nach einem ausführlichen Aufnahmegespräch kann diese oder dieser je nach zugrundeliegender psychischer Erkrankung mit verschiedenen therapeutischen Maßnahmen behandeln. „Besonders wirksam ist eine kognitive Verhaltenstherapie, die der Jugendlichen oder dem Jugendlichen neue Bewältigungsstrategien für Stresssituationen an die Hand gibt, um Emotionen besser zu kontrollieren“, sagt Pfeuffer von der Schön Klinik Roseneck.

In einem sogenannten Skills-Training lernen Betroffene Strategien, die bei starker Anspannung und in hochemotionalen Situationen kurzfristig helfen, die Gefühle zu regulieren und die aber gleichzeitig nicht schaden. Skills wirken auf verschiedenen Ebenen (Quelle: Psychotherapeutische Beratungsstelle Mainz):

Verhaltensbezogene Skills bei Handlungsimpulsen 

− Körperliche Ablenkung: Sport treiben, basteln, etwas schreiben, Instrument spielen etc.

− Entgegengesetztes Verhalten: dem ursprünglichen Handlungsimpuls entgegengesetztes Verhalten zeigen, um die emotionale Reaktion abzuschwächen

EmotionAuslöserHandlungsimpulsEntgegengesetztes VerhaltenÄrgerGrenzüberschreitungAngriffSituation verlassenAngstBedrohungFluchtKonfrontationTrauerVerlustRückzug, Trost suchenAktivität, AblenkungSchamMakelIm Erdboden versinkenSich zeigen

Körperbezogene Skills bei starken Körperreaktionen 

− Starke Sinnesreize: z. B. kalt duschen, Chilischoten kauen, saure Bonbons oder Vitaminbrausetabletten lutschen, Igelball kneten, Haushaltsgummi am Handgelenk schnipsen 

− Bewegung: z. B. joggen, Treppen laufen, schwimmen, Holz hacken, gegen einen Boxsack schlagen, Papier zerreißen 

− Entspannung: z. B. Phantasiereise, Meditation, Progressive Muskelentspannung, Atemübung, Sauna 

Gedankenbezogene Skills bei negativen Bewertungen 

− Gedankliche Ablenkung: z. B. Kreuzworträtsel, Stadt-Land-Fluss, in 7er-Schritten rückwärts zählen 

− Gedankenunterbrechung: Unterbrechen negativer Gedanken mit dem Wort „STOP“ und Richten der Aufmerksamkeit auf etwas anderes oder Übergang zu einer anderen Aktivität 

− Sorgenstunde: Einrichten einer bestimmten Zeit am Tag an einem ruhigen Ort (ca. 30 Min.) zur konstruktiven Auseinandersetzung mit Gedanken

Das Westpfalz-Klinikum gibt zum Beispiel auch den Tipp, einen Notfallkoffer zu packen. Darin: ein Igel-Ball, Chilischoten zum Kauen, Fisherman’s Friend, eine Achtsamkeits-CD und eine wichtige Telefonnummer, die man anrufen kann, wenn man jemanden zum Reden braucht – das kann ein Freund sein, aber auch ein professionelles Hilfsangebot wie die Nummer gegen Kummer.

Was sollten Eltern an den äußeren Umständen ändern?

Ist Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz unter anderem der Grund für NSSV ist ein Schul- oder Jobwechsel eine Möglichkeit. Wird die Situation in der Familie als belastend empfunden, kann eine Familientherapie helfen. Die Betroffenen lernen in der Therapie aber auch Auslöser zu erkennen und rechtzeitig damit zu umgehen. Dies kann in einer Tagesklinik wie der Schön-Klinik Roseneck am Chiemsee umfassend in einer stationären Therapie geübt werden – die Plätze sind allerdings schwer zu bekommen, es gibt lange Wartelisten. Auch Entspannungstechniken wie Yoga, Atemübungen und Progressive Muskelentspannung helfen, Druck abzubauen. In einigen, schweren Fällen und wenn eine psychische Erkrankung zugrundeliegt, können auch Psychopharmaka wirken. Um den Betroffenen die Scham wegen der Narben zu nehmen, können diese beim Hautarzt durch Narbensalben, eine Lasertherapie, Dermabrasion (Abtragen der oberen Hautschicht) oder Micro-Needling (kleine Nadelstiche in die obere Hautschicht) verkleinert werden.