Alter Messenger: ICQ am Ende: Abschied von einem Internet, das vor allem Spaß machen sollte

Nach 28 Jahren wird ICQ zu Grabe getragen. Eine ganze Generation hat der Messenger beim Entdecken des Internets begleitet, mit ikonischem „Uh-Oh“ und Start-Nebelhorn. Heute ist die sieche Software aus der Zeit gefallen – aber ihr Tod auch Beleg für die Spaßlosigkeit des Netzes, meint unser Autor.

Wenn man Menschen zwischen 25 und 45 nach ihrer ICQ fragt, ist es gut möglich, dass sie ohne zu zörgern eine fünf- bis neunstellige Nummer aufzusagen wissen. Immerhin war die sogenannte „UIN“ (Unique Identification Number) mitunter das Erste, mit dem sich Menschen aus jener Alterskohorte im Internet identifiziert haben. Abgesehen natürlich von einer möglichst peinlichen E-Mail bei GMX, AOL oder Web.de.

Für alle, die es nicht wissen: Ursprünglich bekam jeder von ICQ eine Nummer als Login, die Reihenfolge war fortlaufend. Fünfstellige hatten nur Mitarbeiter, sechsstellige Konten waren eine Nerd-Trophäe und selbst siebenstellig galt noch als „früh dran“. Ein erstes Internet-Kräftemessen, unschuldig wie die Zeit im Web selbst damals.

Das erste soziale Netzwerk

ICQ, das war mehr als ein Messenger. Um die Jahrtausendwende vielleicht das erste soziale Netzwerk im eigentlichen Sinne. Das Internet steckte, verglichen mit heute, noch in den Kinderschuhen, und mit ICQ hielt man Kontakt zu Freunden. Es gab keine Influencer, keine Reels, kein Tiktok, kein Youtube und keine Timelines, die auf maximale Klickraten optimiert waren.

ICQ Boom  19.30

Über den Chat hinaus verschickte man Links oder hinterließ Status-Nachrichten, falls man nicht am Rechner war. Das setzte damals allerdings voraus, dass man bereits eine der aufkommenden Flatrates hatte, die ein stetes Onlinesein überhaupt ermöglichten. Mit den Zeit- oder Volumentarifen machte man sich im Elternhaus keine Freunde, wenn der Rechner nur wegen einer Nachricht anbleiben sollte. Immer erreichbar zu sein, insbesondere über das Internet, war damals noch ungewöhnlich, ja sogar verpönt. Wie auch? Der dicke Rechner war zu schwer und nicht mobil, das Handy hatte keinen Internetzugang.

Heute ist das freilich anders. Jeder hat das Internet in der Hosentasche, ist immerzu und überall online, live. Und die Dienste, die wir heute nutzen, wollen es auch genau so. Instagram, Tiktok, Facebook, selbst Whatsapp. Irgendwas ist immer irgendwo los. Fünf Minuten mal nicht auf das Handy schauen? Kann man machen, aber macht man nicht. Denn vielleicht verpasst man ja was.

Das Leben wird öffentlich verhandelt, in Echtzeit, und die Reflexgefühle gleich mit, die Instantregungen, das portionierte Drama. Ein Shitstorm jagt den nächsten, dranbleiben, Leute. Zu den besten Zeiten von ICQ war das anders. War man nicht da, war man halt nicht da. Die Erwartungshaltung, dass gefälligst auf alles sofort zu antworten war, gab es einfach nicht. Zwei Wochen offline, weil man im Urlaub war? Cool! Wie war’s? 

ICQ wird zugemacht17.30

Die Kommunikation war, das kann, das muss man sogar so sagen: einfach netter. Der anonyme Hass aus sozialen Netzwerken, den wir heute fast schon stumpf ertragen, war kaum vorhanden. Menschen begegneten einander so, wie sie auch persönlich gesprochen hätten. Ein, logisch, riesiger Gewinn für das virtuelle Miteinander. Und gab es doch mal Streit, standen nicht gleich Tausende bereit, um aus einer kleinen Empörung eine große Geschichte zu machen, um das Aufgeschnappte weiterzuspinnen, aufzublasen, als Grundlage für ihre eigene Befindlichkeit zu benutzen. Das World Wide Web war ruhiger, entspannter, ein digitales Dorf nicht nur dem Namen nach, sondern auch in der Binnenstimmung.

Ich habe meine Frau, die damals mit mir zu Schule ging, über ICQ kontaktiert. Persönlich angesprochen hätte ich sie vermutlich nie und sie vermutlich nie mit mir geredet. Über ICQ ging es – mittlerweile sind wir seit 17 Jahren ein Paar. ICQ, erste Singlebörse also auch, aber ohne Swipen.

Ein unwürdiges Ende für ICQ – und längst überfällig

Leider lässt sich der Geist der Vergangenheit heute nicht mehr nachlesen – erst seit wenigen Jahren werden die Chats synchronisiert und in der Cloud gespeichert. Vorher waren die Daten lokal auf dem Rechner zu finden, was immer auch bedeutete: Festplatte weg, Chats weg. Als sich das änderte, war leider kein Mensch mehr bei ICQ unterwegs. 

Schade, aber irgendwie auch gut.

Ich bin ehrlich, ich danke dem Internetgott jeden Tag dafür, dass die digitalen Spuren meiner Jugend im Datennirvana verschwunden sind. Hätte ich zur Jahrtausendwende Tiktok-Videos hochladen können, sie hätten sich als ungeahnte Peinlichkeiten für immer ins Internet eingebrannt. Ein Internet, das vergisst – auch das ist heute undenkbar.

Mit ICQ verhält es sich deshalb ein bisschen wie mit Nintendo-64-Spielen: Man sollte diese Relikte der guten, der alten Zeit in sanfter Erinnerung behalten, aber nicht mehr versuchen, dem Gefühl von damals nachzujagen. Mit neuen Maßstäben können die alten Sachen nicht mehr mithalten, und die Nostalgie allein hilft nicht beim Performancevergleich. Meine Kollegin hat das 2018 mit ICQ mal versucht – und hatte dabei keine große Freude. 

MSN Status 7.15

Und doch ist der plötzliche Untergang von ICQ reichlich unwürdig, der Messenger hätte ein Ende mit Anstand verdient gehabt. Die finalen Jahre sind ihm und seiner Bedeutung nicht gerecht geworden. Die Abwärtsspirale muss um 2010 begonnen haben, da verkaufte AOL, die ICQ seit 1998 besaßen, an das russische Unternehmen VK, damals als Digital Sky Technologies bekannt.

Zwar arbeitete VK tatsächlich noch lange Jahre an Updates und Verbesserungen, aber ICQ erlebte nie einen zweiten Frühling. Das Konzept eines Chats, inzwischen durch Whatsapp, Signal, Threema oder iMessage bestens abgedeckt, war nicht mehr zeitgemäß. Anfang 2021 profitierte die App kurz von einer Whatsapp-Krise, konnte den plötzlichen Zustrom neuer (alter) Nutzer aber nicht halten.

Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit – dieser Spruch stimmt auch bei ICQ. VK konnte (oder wollte) aus dem Messenger nicht mehr machen, als er schon war. Und da die kritische Nutzermasse für den erfolgreichen Betrieb ohnehin längst fehlte, hätte wohl auch der beste Einfall vielleicht nichts mehr genützt. Mehr als ein letztes „Auf Wiedersehen“ bleibt also nicht, wenn ICQ am 26. Juni 2024 für immer schließt. 

UIN 845250 sagt Danke. Es war eine gute Zeit.