Hass im Internet ist kein Einzelfall. Eine RTL-Reporterin recherchiert investigativ in Foren und deckt digitale Gewalt gegen Frauen auf. Vier erzählen von ihren Erfahrungen.
Beleidigungen, Doxing, sexuelle Belästigung und Revenge Porn: Im Internet entwickeln sich neue Formen von Bedrohung. Digitale Gewalt ist ein weltweit wachsendes Problem: 50 Prozent der jungen Erwachsenen in der EU haben laut einer repräsentativen Umfrage bereits Erfahrung mit Hass im Internet gemacht. Jede zweite Person im Alter von 18 bis 35 war bereits persönlich betroffen.
Die Folgen sind immens: „Man wird öffentlich bloßgestellt, man schämt sich dafür, und natürlich belastet es. Das kann bis hin zu Angstzuständen und Depressionen gehen“, sagt Josephine Ballon, Rechtsanwältin und Geschäftsführerin von HateAid. Die Menschenrechtsorganisation im digitalen Raum engagiert sich wie The Landecker Digital Justice Movement für die Unterstützung Betroffener und hat die repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben.
Aus Angst vor Angriffen ziehen sich vor allem Frauen aus den sozialen Medien zurück. Jede dritte fürchtet, dass geklaute oder gefälschte Nacktbilder im Internet landen könnten. Der Digital Services Act (DSA), ein neues EU-Gesetz, soll mehr Sicherheit und Verantwortung im digitalen Raum schaffen.
Für eine investigative Dokumentation recherchierte die RTL-Reporterin Angelique Geray in der Online-Welt auf sogenannten Exposer-Foren. Diese Plattformen sind ein Sammelbecken für digitale Gewalt und erniedrigende Inhalte. Hier werden private Fotos und Informationen von Frauen ohne deren Einwilligung veröffentlicht, oft ergänzt durch abscheuliche Aufforderungen zu Gewalt.
Digitale Gewalt: die dunklen Ecken im Netz
In diesen Foren herrscht ein Klima der Anonymität, das den Tätern ein Gefühl der Sicherheit gibt. Sie posten Fotos, die sie heimlich gemacht haben, oft in scheinbar harmlosen Situationen wie im Garten oder beim Müllrausbringen. Diese Bilder werden dann von anderen Usern manipuliert und mit Hilfe Künstlicher Intelligenz zu obszönen Inhalten verfremdet. „In Zukunft werden wir noch viel mehr Fälle von digitaler Gewalt sehen, als wir sie jetzt schon haben“, warnt Martin Rettenberger, Kriminologe und Psychologe. Denn teilweise kämen wöchentlich neue KI-Programme auf den Markt.
Die Beiträge in diesen Foren sind verstörend und oft gewalttätig. Eine typische Aufforderung lautet: „Macht mit ihr, was ihr wollt. Ich habe ihre Adresse und würde sie teilen.“
Angelique Geray gab sich in einem der Foren als Gleichgesinnte aus, um die Täter aufspüren zu können. Sie fand erschreckend viele Beiträge auf Deutsch, die detailliert beschreiben, wie Frauen beobachtet, fotografiert und anschließend im Netz bloßgestellt werden. Die Täter nutzen ihre vertrauten Beziehungen aus, um das Vertrauen der Frauen zu missbrauchen und ihre Privatsphäre zu zerstören. Die Betroffenen wissen von diesem Missbrauch meist nichts.
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Die Deepfake-Falle
Lena Vanille, bürgerlich Lena Sohnle, ist eine beliebte Streamerin, mit mehr als 300.000 Followern. Ihre Fans verfolgen regelmäßig ihre Online-Gaming-Sessions auf der Plattform Twitch. Lena Vanille beherrscht die Regeln im Netz. Doch eines Tages stellt sie fest: Ihr Gesicht wurde für pornografische Deepfakes missbraucht. „Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es von mir Deepfakes gibt“, erzählt sie mit zitternder Stimme ihrer Community. „Das sind Videos auf Pornoseiten, wo mein Gesicht drauf editiert wird. Aber das bin ich nicht.“ Doch diese Videos wieder aus dem Netz zu bekommen, ist fast unmöglich.
Lena Vanille ist eine beliebte Streamerin auf der Plattform Twitch. Auch von ihr tauchten verfremdete Bilder auf Pornoseiten im Netz auf
© RTL Deutschland
Lena ist entsetzt, als sie eines der Videos sieht. Ihr Gesicht bewegt sich, ihre Mimik scheint echt – doch der Körper ist nicht ihrer. Diese Technologie kann jedes Gesicht täuschend echt auf einen fremden Körper übertragen – und das mit nur einer einfachen App. Eine Studie aus dem Jahr 2023 zeigt, dass etwa 96 Prozent aller Deepfake-Videos pornografisch sind und hauptsächlich Frauen betreffen. „Es ist einfach krass“, sagt Lena. „Obwohl ich niemals sexuelle Inhalte produziert habe, finde ich mich plötzlich in einem Pornofilm wieder.“
Die Angst und Scham, die Lena empfindet, sind schwer in Worte zu fassen. „Es fühlt sich an, als wäre ein Teil meiner Identität gestohlen worden“, beschreibt sie ihre Gefühle. Doch anstatt sich zurückzuziehen, entschließt sich Lena, weiter für ihren Platz im Netz zu kämpfen. Sie lässt sich nicht zum Schweigen bringen und setzt ein Zeichen gegen diese Form der digitalen Gewalt.
Heimlich fotografiert vom eigenen Neffen
Nina (Name geändert), eine 37-jährige Frau aus Thüringen, kann kaum glauben, was sie entdeckt. Ihr eigener Neffe hat heimlich Fotos von ihr gemacht und sie im Internet veröffentlicht. „Das ist widerwärtig, abartig. Ich könnte mich auf der Stelle übergeben“, sagt sie unter Tränen. Der 20-Jährige stiehlt ihre Unterwäsche, fotografiert diese mit obszönen Gegenständen und postet die Bilder in Exposer-Foren. „Ich will, dass meine heiße 37-jährige Tante bloßgestellt wird. Ich will, dass sie vergewaltigt wird“, schreibt er in einem Beitrag. „Ich beobachte sie seit Jahren und mache heimlich Fotos.“
Trotz des Schocks hat Nina sich entschieden, nicht zu schweigen und ihren Neffen anzuzeigen. „Er war nie der kommunikative Typ, eher ein Einzelgänger. Aber das hier? Das übertrifft alles“, sagt sie fassungslos. Die Vorstellung, dass jemand aus ihrer eigenen Familie sie so verraten und erniedrigen könnte, ist unerträglich.
Dank der intensiven Recherchen führten die Ermittlungen schließlich zu einer Hausdurchsuchung im Elternhaus des Neffen. Der junge Mann, der als Rettungssanitäter arbeitet, hat sich inzwischen in psychiatrische Behandlung begeben. „Die Familie ist zerstört“, sagt Nina. „Es ist schwer zu ertragen, dass jemand, dem ich vertraut habe, so etwas Schreckliches tun konnte.“
Dickpics: ungefragte Nacktbilder
Mareile Höppner, RTL-Moderatorin, erhält seit Jahren ungefragt sogenannte Dickpics. Ein Mann schickt ihr immer wieder Fotos seines Geschlechtsteils. In einem Interview konfrontiert sie den Täter: „Ich dachte, es fällt mir leichter, mit dir ins Gespräch zu kommen. Aber es ist tatsächlich gar nicht so leicht, dir zuzuhören“, sagt sie mit sichtbarem Unbehagen.
RTL Moderatorin Mareille Höppner (links) erhält seit Jahren sogenannte Dickpics. Gemeinsam mit Angelique Geray konfrontiert sie den Absender der unangemessenen Bilder
© RTL Deutschland
Der Mann gibt zu, dass es ihn erregt, wenn Frauen sich über seine Bilder lustig machen. „Mein Fetisch ist, dass die Frau sich darüber lustig macht und negativ reagiert“, erklärt er. „Nicht negativ im Sinne von angewidert sein, sondern dass sie mich auslacht.“ Mareile stellt klar: „Ungefragt Nacktbilder zu bekommen, ist nicht lustig. Es ist belästigend und demütigend.“ Ihre Entschlossenheit, gegen diese Belästigung vorzugehen, soll anderen Betroffenen Mut machen, sich ebenfalls zu wehren.
Der stalkende Nachbar
Sabine (Name geändert), eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, wird heimlich von einem Nachbarn fotografiert. Auf einem Online-Forum findet die Reporterin Angelique Geray Bilder von Sabine und ihren zwei Töchtern, die durch das Fenster ihres Reihenhauses gemacht wurden. „Ich weiß echt nicht, was ich dazu sagen soll. Es ist schockierend und ekelerregend“, erzählt Sabine, die dieses Forum noch nie gesehen hat.
Sabine (Name geändert) wurde heimlich von ihrem Nachbarn fotografiert, er stellte die Bilder ins Netz. Journalistin Angelique Geray deckte das auf
© RTL Deutschland
Sabine fühlte sich schon länger von ihrem Nachbarn belästigt, aber das Ausmaß dieser digitalen Übergriffe war ihr neu. „Er fotografierte mich, wie ich den Müll rausbrachte, wie meine Tochter ins Auto steigt, ja sogar, wie ich im Garten sitze. Dass jemand so weit geht, war mir unvorstellbar.“
Private Momente gestohlen
Geray zeigt ihr die Beiträge in dem Exposer-Forum, in denen der mutmaßliche Täter, ihr ehemaliger Nachbar, unter dem Benutzernamen „Strange_dude“ und mit einem Profilbild seines Geschlechtsteils die anderen Nutzer dazu auffordert, Deepfakes aus den Bildern zu erstellen. „Es ist unbeschreiblich, wie er unsere privaten Momente gestohlen und öffentlich zur Schau gestellt hat“, sagt Sabine.
Zusätzlich veröffentlichte der Täter die echten Namen von Sabine und ihren Töchtern sowie weitere Fotos, die aufschlussreiche Details darüber gaben, wo die Frauen wohnen. „Er hat unsere Sicherheit aufs Spiel gesetzt“, so Sabine.
Als das Kamerateam vor dem Haus des mutmaßlichen Täters steht, lädt er die Journalisten sogar ein. Im oberen Stock entdeckt Reporterin Geray eine Kamera in der Nähe des Fensters. Der Nachbar gibt sich jedoch ahnungslos und behauptet: „Das ist alles ein Zufall, den ich mir nicht erklären kann.“ Die Polizei ermittelt.
Doxing: Daten im Internet
Das, was in diesen Foren passiert, ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch strafbar. Das Sammeln und Verbreiten von persönlichen Daten ohne Einwilligung nennt man Doxing. Es ist in Deutschland illegal.
Dabei werden persönliche Daten der Opfer wie Adressen, Telefonnummern und sogar Arbeitsplätze veröffentlicht. Das Ziel ist es, das Opfer auch außerhalb des Internets zu belästigen und einzuschüchtern. Die Hemmschwelle, diese Daten zu nutzen, ist erschreckend niedrig. Die Täter verstecken sich in der Anonymität des Internets und sind für die Polizei oft schwierig zu fassen.
Die Existenz und das Treiben in diesen Exposer-Foren verdeutlichen die Dringlichkeit, mit der gegen digitale Gewalt vorgegangen werden muss. Die Geschichten von Lena, Nina, Mareile und Sabine zeigen, dass die Opfer nicht alleine sind und dass es wichtig ist, sich gegen diese Form der Gewalt zu wehren. Nur durch konsequentes Handeln und Aufklärung kann diese Bedrohung eingedämmt werden.
Die investigativen Reportage „Digitale Gewalt: Frauen im Visier“ von Angelique Geray läuft am läuft am 13. August um 22.35 Uhr bei RTL
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