Im Stade de France beendete die Abschlussfeier zwei magische Wochen. Tom Cruise stieg aufs Motorrad und brauste mit der olympischen Fahne davon – Los Angeles 2028 kann kommen.
Am Ende der olympischen Spiele ging es mystisch zu im Stade de France: Unter reichlich Theaternebel schwebte ein futuristisch gestachelter goldener Tänzer auf die Bühne hinab, Laserstrahlen schossen ihr Licht in die unendlichen Weiten des nachtschwarzen Himmels. Inspiriert war die Szene des goldenen Weltraumtouristen von den „Voyager Golden Records“. Jenen Datenplatten also, die an den Voyager-Raumsonden angebracht sind, als Grußbotschaften für Außerirdische – falls irgendwelche Aliens sie eines Tages in die Finger bekommen sollten, werden sie dort reichlich Informationen über die Erdbewohner finden. An diesem Abend stieg das Weltraumwesen jedoch ins Pariser Stadion hinab, um die fünf Ringe zu vereinen. Das Symbol der Spiele, eine Metapher für Menschheit und Humanität.
„We are the Champions“ zum Mitsingen bei der Abschlusszeremonie
Zeremonienmeister Thomas Jolly, der auch die Eröffnungsfeier konzipiert hatte, beschwor zum Abschluss mit Paukenschlägen und Feuerwerk den olympischen Geist herauf. Im Mittelpunkt des Geschehens standen dieses Mal die Athleten, und zwar buchstäblich: Gleich zu Beginn der Zeremonie waren sie fahnenschwenkend kreuz und quer in den Innenraum des Stadions gelaufen, über 9000 Sportlerinnen und Sportler aus 205 Nationen, ein heiteres Durcheinander. Den Rest des Abends sollten sie dort auch bleiben. Diese Feier war ihre Party, es gab „We are the Champions“ zum Mitsingen, Ehrensache, und natürlich lief auch die heimliche Hymne dieser Spiele: „Que je t’aime“ von Johnny Hallyday.
Auf den Displays flackerten währenddessen die grandiosen Szenen der vergangenen Tage vorüber – aber es schien fast so, als wolle Paris noch nicht aufhören: Die letzte Siegerehrung fand im Stadion statt, ausgezeichnet wurden die Marathonläuferinnen Hellen Obiri (Bronze), Tigst Assefa (Silber) und Sifan Hassam (Gold). Hochdekorierte Sportlerinnen allesamt, doch als sie ihre Olympiamedaillen entgegennahmen, war das schon wieder so ein Moment, der beinahe zu Tränen rührte.
In Paris gehen magische Wochen zu Ende. Frankreich hat viel gewagt und alles gewonnen: Erstmals hatte ein Großteil der Wettbewerbe außerhalb regulärer Sportanlagen stattgefunden. Viele hatten deswegen Bedenken, doch es war die beste Idee überhaupt. Fechten unter dem Glasdach des Grand Palais, Breakdance auf der Place de la Concorde, Bogenschießen vorm Invalidendom, Beachvolleyball am Fuße des Eiffelturms, Schwimmen in der Seine – zugegeben, letzteres war vielleicht nicht ganz optimal, aber dafür ein Schauspiel, bei dem jeder zusehen konnte. Dabei lag der Zauber nicht mal in der großartigen Kulisse. Paris ist zu jeder Zeit majestätisch und mondän, aber während der Spiele flirrte eine ungewohnt zarte Herzlichkeit über der Stadt. Man brauchte keine Tickets zu kaufen, um diese Stimmung zu erleben. Es genügte, über die Seine-Brücken zu schlendern oder sich in den Gärten der Tuilerien unter einen Baum zu setzen und mit Menschen aus aller Welt gemeinsam auf einem Handy-Display Speerwerfen oder Staffellauf zu gucken, als sei es das Wichtigste auf der Welt. Und für einen Moment lang war es das ja auch.
Die Pariser hatten Chaos erwartet – und bekamen ein rauschendes Fest
Die meisten Pariserinnen und Pariser hatten im Vorfeld ein unerträgliches Chaos erwartet, mindestens. Stattdessen bekamen sie ein rauschendes Fest. Man konnte die Spiele in den teuren Nobelrestaurants mit Seine-Blick erleben, für wenig Geld direkt nebenan auf der Fan-Meile am Trocadero oder auf einer Terrasse im Vorort Saint-Denis; die ganze Stadt machte mit, schön war es überall – und niemand, am wenigsten wohl die Bewohner, hatten damit gerechnet. Die Franzosen haben sich selbst überrascht.
Das Land sei olympisch geworden, sagte Tony Estanguet, der Chef des Organisationskomitees, bei der Abschlussfeier. Er erinnerte auch an die sieben öffentlichen Heiratsanträge, die es in Paris gegeben hatte, mehr als bei allen anderen Spielen zuvor. Den wohl größten Applaus bekamen jedoch die rund 45 000 freiwilligen Helferinnen und Helfer, die ebenso geduldig wie freundlich an Straßenecken und Metrostationen die Besucher durch die Metropole geschleust hatten. Wenn es in den vergangenen zwei Wochen so gut wie nie gereizt zuging, war das vor allem ihr Verdienst.
Nach dem mysteriösen Einstieg wechselte die Abschlussfeier in den Festival-Modus, offenbar hatte man sich vorgenommen, im Stadion nicht allzu viel Theater machen zu wollen. Auf der gezackten Bühne spielten Phoenix, auch schon etwas in die Jahre gekommen, aber Stage-Diving klappte reibungslos. Als die Band Air ihren Hit „Playground Love“ anstimmte, mussten sich einige Athleten im Innenraum mal kurz auf den Boden setzen – insgesamt schien der popmusikalische „French Touch“ nicht jeden aus dem Häuschen zu bringen, aber auf den Rängen wurde umso mehr gefeiert.
Tom Cruise sprang vom Dach
Gegen halb zwölf passierte dann endlich, worauf alle gewartet hatten. Die kalifornische Sängerin Gabriella Wilson, alias H.E.R., hatte gerade erst mit Sonnenbrille und E-Gitarre die amerikanische Nationalhymne geschmettert, als er am Stadiondach auftauchte. Nein, nicht Emmanuel Macron. Der war zwar auch anwesend, hielt aber keine Rede. Es war Tom Cruise, der zeigte, dass er auch mit 62 Jahren noch nicht zu alt für Stunts ist. An einem Seil sprang er in die Tiefe und mit ihm ging’s auch ästhetisch Richtung USA. Kragen hoch und rauf aufs Motorrad – mitsamt dem amerikanischen Superstar röhrte die olympische Fahne wenig später ihrem nächsten Bestimmungsort entgegen: „Hollywoooood“. Der berühmte Schriftzug in den Hollywood Hills leuchtete auf, dekoriert mit fünf Ringen.
Dann kam er angeflogen: Tom Cruise landete zwischen den Sportlerinnen und Sportlern im Stadion
In Los Angeles spielten die Red Hot Chili Peppers am Strand, Billie Eilish sang und – selbstverständlich – Snoop Dog, das omnipräsente und stets exzellent gekleidete Maskottchen von Paris. Um Mitternacht erklärte IOC-Präsident Thomas Bach die olympischen Spiele für beendet, nachdem er zuvor noch ein beachtliches Wortspiel beigetragen hatte: „Seine-sationell“ sei das alles gewesen. Los Angeles 2028 kann kommen.
Wehmut hing in dieser Nacht über Paris. Aber so soll es ja auch sein, nach einem gelungenen Fest. Verglichen mit dem spektakulären Auftakt auf der Seine war die Abschlussfeier beinah konventionell – das Stadion hatte zwischenzeitlich Funken gesprüht wie eine gigantische Geburtstagstorte, doch das war genau richtig so. In Frankreich ist man beseelt von der Freude über die gemeinschaftliche Leistung, über die Gewissheit, dem Großereignis seinen ganz eigenen Glanz verliehen zu haben. Der olympische Geist wird der Stadt noch ein wenig erhalten bleiben – am 28. August beginnen die paralympischen Spiele.