Die Grünen bereiten sich auf die Bundestagswahl vor und Robert Habeck erwägt Kanzlerkandidat zu werden. Aber ist das realistisch für die Partei?
Dieser Tage erwägt Robert Habeck, Kanzlerkandidat der Grünen zu werden. „Sein oder nicht sein“, mag er sich fragen. Und angesichts der schlimmen Lage seiner Partei passen auch die darauffolgenden Zeilen Hamlets zu Habeck: „Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden oder, sich waffnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden?“
Natürlich geht es im Kampf ums Kanzleramt nicht um Mord und Totschlag wie bei Shakespeare. Die Pfeil und Schleudern, die sich gegen Habeck richten, heißen heute Heizungsgesetz und Kindergrundsicherung, mithin jene Unbill, die sich der grüne Wirtschaftsminister selbst eingebrockt hat. Und die See voll Plagen mag man interpretieren als die Flut an Häme, die Habeck durchwaten müsste, sollte er sich für „Sein“ entscheiden: Warum, bitte, nominiert eine Partei mit elf Prozent in den Umfragen einen Kanzlerkandidaten?
Die Kommentare könnten – weniger literarisch – in etwa so lauten: Die Grünen leiden an „kollektivem Realitätsverlust“ und seien die Partei mit dem „Gaga-Faktor“. Habeck sei ein „Kanzlerkandidat aus Fantasialand“ und „größenwahnsinnig“. Das alles bekam Guido Westerwelle im Mai 2002 zu lesen, nachdem ihn die Liberalen zu ihrem Kanzlerkandidaten gekürt hatten. Politisch natürlich sehr viel seriöser, sind die Grünen gleichwohl demoskopisch heute nicht sehr weit von jener FDP entfernt, die sich damals Wahlziele auf die Schuhsohlen klebte. Die Liberalen standen in den Umfragen zwischen acht und zehn Prozent. Bei den Bundestagswahlen waren es schließlich 7,4.
Die Rechtfertigung eines Kanzlerkandidaten
Andererseits stand die SPD nur etwa drei Prozentpunkte über den Grünen heute, als sie 2020 Olaf Scholz nominierte. Alle waren überrascht, als er dann tatsächlich Kanzler wurde – außer Scholz selbst. Wann also ist ein Kanzlerkandidat ernst zu nehmen?
Die Frage hat Bedeutung, zum Beispiel, wenn es im nächsten Jahr um die Fernsehauftritte geht. Im Wahlkampf 2021 schwoll das zwei Jahrzehnte lang übliche TV-Duell zu einem Triell an, weil sich zu Armin Laschet und Olaf Scholz noch Annalena Baerbock gesellte. Ein Gewohnheitsrecht gibt es aber nicht. Die Besetzung der Kanzlerkandidaten-Shows ist eine heikle Angelegenheit, wie man seit 2002 weiß, als Westerwelle sich in die Sendungsdebatte neben Gerhard Schröder und Herausforderer Edmund Stoiber einklagen wollte.
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Das Bundesverfassungsgericht nahm Westerwelles Klage damals gar nicht erst an, sondern bestätigte die Urteile zweier Vorinstanzen: Demnach träfen im Duell der öffentlich-rechtlichen Sender – auf das sich Westerwelles Klage bezog – die zwei Politiker aufeinander, „die allein ernsthaft damit rechnen können, zum Bundeskanzler gewählt zu werden“. Folglich scheide die Teilnahme Westerwelles aus, weil er „keine realistische Aussicht“ habe, die Wahl zu gewinnen. Nicht der Titel entscheidet also, sondern die Erfolgschancen. Robert Habeck müsste die Grünen bis einige Wochen vor der Wahl wieder so weit anheben, dass er tatsächlich eine Option hätte, Kanzler zu werden. Kann er das schaffen?
Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, lautet ein Satz, der dem Sozialdemokraten Kurt Schumacher zugeschrieben wird. Und die Wirklichkeit sieht finster aus. Nun muss sich Habeck entscheiden. „So macht Bewusstsein Feige aus uns allen“, heißt es im Hamlet. „Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; und Unternehmen, hochgezielt und wertvoll, durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt.“