Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich laut einer aktuellen Insa-Umfrage Neuwahlen. Sie haben Recht, findet stern-Autor Rolf-Herbert Peters. Das wäre fatal, sagt sein Kollege Alexander Schreiber.
Pro: Jetzt helfen nur Ehrlichkeit und schnelles Handeln
Kommenden Samstag spielt der 1. FC Köln gegen den SV Elversberg. SV wer? Nie gehört? Das ist ein sehr kleiner Club aus dem saarländischen Spiesen-Elversberg im Landkreis Neunkirchen. Köln, der einst ruhmreiche Fußballverein aus der Domstadt, ist in den Niederungen der zweiten Liga angekommen. Aus heutiger Sicht scheint es kaum möglich, dass er sich schnell wieder nach oben arbeiten kann.
Denn der „FC“, wie Fans den Verein kurz nennen, liefert den Beleg dafür, wie man gelähmt ist und nachhaltig abrutscht, wenn man zu lange an Managementstrukturen festhält, die sichtlich nicht funktionieren. Falsche Kaderplanung, Fehler im Alltagsgeschäft, zu viel Selbstbetrug.
Die Demokratieverächter feiern
Und hier beginnt die Parallele zur Politik. In Berlin zeigt sich quasi seit Regierungstag eins, dass das deutsche Staatsmanagement so nicht funktioniert. Das Land ist wirtschaftlich auf Talfahrt, die Demokratieverächter der AfD feiern ihren Aufstieg, das Volksgemüt schwankt zwischen genervt und desillusioniert.
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Und der Kanzler? Er zeigt sich unfähig, den Laden zu führen, ihn zusammenzuhalten und die dringend notwendige Zuversicht zu vermitteln. Im Gegenteil: Die Ampelparteien waren sich fremd und werden sich immer fremder. Sie scheuen nicht einmal mehr die Blutgrätsche, um den anderen hässlich auszubooten. Das hat sich beim sogenannten Heizungsgesetz gezeigt. Das zeigt sich bei der Mobilitätswende im Streit ums E-Auto. Und nun zeigt es sich bei der Reiberei um den Haushalt.
Die fatale Folge: Die Deutschen haben die Nase voll. 53 Prozent fordern nach der jüngsten Insa-Umfrage Neuwahlen. Nur 37 Prozent wollen, dass die Ampel bis zur regulären Bundestagswahl im Herbst 2025 weitermacht.
Vorgezogene Neuwahlen sind keine Schande
Es spricht also viel dafür, Konsequenzen zu ziehen. Nun kann das Volk qua Grundgesetz die Regierung nicht abwählen. Es gibt auch kein Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages. Nur der Bundespräsident kann ihn auflösen – wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellt und die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten es ihm verweigert.
Vorgezogene Neuwahlen sind keine Schande. Im Gegenteil: Sie sind ein Baustein unseres politischen Fundaments. Der ehemalige SPD-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nannte sie „zutiefst demokratisch“. Dreimal hat es sie seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 gegeben, weil die Bundeskanzler es so wollten: 1972 durch Willy Brandt, 1982 durch Helmut Kohl und 2005 durch Gerhard Schröder.
Jetzt helfen der Ampel nur zwei Dinge
Nun ist es Zeit für Olaf Scholz, die Vertrauensfrage zu stellen. Die Handlungsfähigkeit der Regierung ist beschränkt, es fehlen Abstimmung, Taktik und Tempo – um im Fußballjargon zu bleiben. Der Kanzler hat im Amtseid geschworen, „dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden werde“. Jetzt, da der Abstieg der Nation offensichtlich ist, helfen nur Selbstehrlichkeit und schnelles Handeln. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
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Die Angst vor den Rechten ist zweitrangig
Ehrlichkeit siegt. Die Angst, bei Neuwahlen könnten die Rechten abräumen, ist verständlich, aber zweitrangig. Die Rechten werden langfristig noch mehr gestärkt, wenn eine gelähmte Regierung an ihrer Macht klebt. Wenn sie durch ihre Blutgrätschen das Vertrauen in unsere Staatsform desavouiert. Die Deutschen werden honorieren, wenn ihre Sorgen und Wünsche ernst genommen werden.
Damit die Vertrauensfrage scheitert und Neuwahlen stattfinden können, müssten im Bundestag Abgeordnete der Ampelkoalition gegen Scholz stimmen. Das wäre vor dem Hintergrund des Dauerzoffs nicht verwunderlich. Es wäre sogar richtig, wenn es aus Überzeugung geschieht. Es ist jetzt Mut gefragt – zum Wohle des deutschen Volkes.
Rolf-Herbert Peters
Contra: Neuwahlen sind so sinnlos wie voreilige Trainerwechsel
Wenn wir schon beim Fußball sind: Nur, weil man vorzeitig den Trainer wechselt, wird nicht automatisch alles besser. Der FC Bayern kann davon ein Lied singen. Für Neuwahlen gilt genau dasselbe. Gerade jetzt.
Die Bayern fürchteten, dass Julian Nagelsmann alle Titel verspielt. Deshalb feuerten sie ihn im Frühjahr 2023 panisch. Thomas Tuchel übernahm – und verspielte alle Titel, die Meisterschaft mit einem Jahr Verzug.
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Neuwahlen mögen sexy klingen, der Name Tuchel klang es zunächst auch. Doch der Zeitpunkt für sie könnte nicht unpassender sein.
Spielen wir das Szenario mal durch. Olaf Scholz verliert nach der Sommerpause des Bundestags absichtlich die Vertrauensfrage und macht so den Weg für Neuwahlen frei. Und dann?
Ein Land am Notstromaggregat
Dann stünde Deutschland für 2025 ohne Bundeshaushalt da, denn der ist noch nicht beschlossen. Bis ein neuer Bundestag gewählt und sich eine neue Bundesregierung gefunden hätte, würden Monate ins Land ziehen.
Der Staat müsste seine Ausgaben auf das Nötigste reduzieren, so will es das Grundgesetz. Entscheidende Investitionen in die Zukunft des Landes, in die Bundeswehr, in den Verkehrssektor, für den Klimaschutz würden wegfallen. Statt den ins Stottern geratenen Motor der deutschen Wirtschaft anzukurbeln, müsste das Land ans Notstromaggregat gehängt werden.
Und dann schwebt da ja noch das Damoklesschwert der US-Wahlen über Deutschland. Was, wenn im November der ehemalige US-Präsident Donald Trump tatsächlich wieder ins Weiße Haus einzieht? Die Welt, auch die deutsche, würde auf den Kopf gestellt. Die Unterstützung der Ukraine müsste neu organisiert werden, Europa müsste seine Abschreckung und Verteidigung gegenüber Russland von Grund auf überdenken.
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Wir Deutschen könnten daran nicht mehr mitwirken. Stattdessen wären wir mit Wahlkampf beschäftigt und unsere Regierung, dann der baldigen Abwahl geweiht, auf internationaler Ebene kaum handlungsfähig. Und das, obwohl es da um unsere nationale Sicherheit geht!
Mit einer neuen Regierung verschwinden alte Probleme nicht
Überhaupt würden sich mit Neuwahlen die Sorgen ja nicht einfach in Luft auflösen. Klimakrise, Ukrainekrieg, die zu große Abhängigkeit von russischem Gas und Öl – all diese Probleme hat nicht die Ampel verschuldet, sie würden aber auch jeder neuen Regierung Schwierigkeiten machen.
Sicher, die Ampel ist angezählt. Dass etwa jeder zweite Deutsche Neuwahlen will, muss SPD, Grünen und FDP zu denken geben.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sie – dem innerkoalitionären Dauerstreit zum Trotz – sich bisher immer zusammengerauft haben, wenn es darauf ankam. Eine schlechte Regierung, frei nach Christian Lindner, ist besser als gar keine handlungsfähige Regierung. Zeit, sie abzuwählen, haben die Deutschen 2025 immer noch.
Alexander Schreiber