Marinić: Unsere Kolumnistin wollte wissen, was diesen Kontinent wertvoll macht – und hat Hoffnung mitgebracht

Unsere Kolumnistin wollte auf einer Tour durch sechs Länder herausfinden, wie es unserem Kontinent geht. Sie hat Hoffnung mitgebracht.

Schon immer wollte ich durch Europa reisen, am liebsten durch ein Land nach dem anderen. Dieses Jahr komme ich endlich dazu: Der Sender Arte hat mich als Journalistin und Kulturbotschafterin eingeladen, mir einen Eindruck von Europa zu verschaffen und aus verschiedenen Regionen vor der Europawahl zu berichten. Ich reise monatelang durch zehn Regionen in sechs Ländern. Mit Filmteams an der Seite führe ich Interviews, spreche mit Passanten. Ab Ende Mai läuft eine sechsteilige Serie, sie heißt „Nice to meet you“.

Denk ich an Europa?

Natürlich sind das alles nur flüchtige Eindrücke. Ich habe aber gemerkt, wie wenig Zeit ich mir normalerweise nehme, über Europa nachzudenken. Ich wusste nicht einmal mehr, dass zwölf goldene Sterne auf der königsblauen Flagge sind. Sie stehen für Werte: Einheit, Solidarität und Harmonie. Am Anfang der Reise fragte ich mich, wie viel Einheit und Harmonie es überhaupt noch gibt auf diesem Kontinent. Sind wir je über eine Wirtschaftsunion hinausgekommen?

Doch in jedem Land spüre ich diese Einheit. Trotz der ganzen Brexit-, Frexit,- Dexit-Diskussionen empfinden die meisten Menschen eine Zugehörigkeit zu diesem Kontinent und seiner Geschichte. Auf sich allein gestellt, ist jedes Land zu machtlos in diesen Zeiten; die meisten Europäer wissen das.

Wahl-O-Mat Europawahl 11:59

In Frankreich lerne ich Klimaaktivisten kennen, neben denen die „Letzte Generation“ zahm wirkt. Sie besetzen Landstriche, verhindern den Bau von Flughäfen. Kompromisse auf Kosten der Natur gibt es nicht.

Polen ist Europa und umgekehrt

Die größte Überraschung ist Polen: Jahrelang habe ich in den Medien nur vom Rechtsruck durch die PiS gehört und davon, wie Frauen und LGBTQI+ unterdrückt werden. Ich habe ein Land erwartet, in dem die Repression sichtbar ist, das Gegenteil ist der Fall: Ich erlebe Kämpfer. Es ist kein Zufall, dass Polen das Land in Europa ist, das dem Populismus demokratisch ein Ende bereitet hat, zumindest vorerst. Seine rechte Regierung entpuppte sich als korrupt statt patriotisch; sie wurde abgestraft. Die queere Szene ist selbstbewusst und im Stadtbild sichtbar. Nach all den Berichten hatte ich mir vorgestellt, nur wenige zeigten sich öffentlich. Aber überall in den Städten sehe ich queere Clubs und verliebte Homo-Paare.

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Anfang Mai haben die Polen in Warschau den Beitritt zur Europäischen Union von 2004 mit Paraden und einem traditionellen Konzert in der Altstadt gefeiert. Auf die Frage, ob sie sich eher als Polen oder Europäer fühlten, entgegnen sie alle, das sei kein Widerspruch: Ein starkes Polen mache ein starkes Europa und umgekehrt. Den Kampf der Ukraine gegen Russland unterstützen Rechte wie Linke; die einstige russische Besatzung war ein Trauma für alle. Ein protziges Stalin-Hochhaus, früher als Symbol der Unterdrückung verhasst, ist heute ein Kulturquartier mit Theater, Schwimmbad, Aussichtsplattformen. Die Menschen lieben es. Man spürt den Wunsch, das Land nach vorn zu bringen. Die Feministinnen, mit denen ich spreche, glauben an die Macht von Protest, schließlich haben sie nicht nur den Regierungswechsel mit auf den Weg gebracht, sie haben die Köpfe der Menschen verändert. Demokratisches Bewusstsein stärken, darum gehe es, sagen sie.

Warum nur hören wir so selten von den inspirierenden Menschen in unseren Nachbarländern? Egal, in welchem Land, alle Europäer kennen die Kriege Europas aus der eigenen Familie. Daher glauben mehr Menschen, als ich erwartet habe, an das Friedensprojekt Europa. Vielleicht lässt sich daraus Hoffnung für die Zukunft machen.